Das Urteil

1K 124 18
                                    

Die Nachricht kam, als sie sich gerade zum Frühstück setzten.

Claudia hatte den ganzen Morgen darauf gewartet, unruhig war sie in ihrem Zimmer auf und ab gegangen und hatte Lydia damit fast in den Wahnsinn getrieben. Sie hatte versucht, an etwas anderes zu denken, ihre Flucht mit Titus zu planen, der sie in ein paar Stunden am Stadttor erwarten würde. Doch die Bilder aus dem Garten wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen.

Ihr nächtlicher Ausflug war niemandem aufgefallen, weder ihrer Schwester noch Pilatus' Frau. Die beiden schienen sie nicht einmal jetzt richtig zu beachten und wirken selbst alles andere als ausgeschlafen. Die ältere Claudia starrte auf ihren Teller, ohne auch nur einen Bissen zu nehmen. Ihr Blick huschte immer wieder zu ihrem Mann auf der anderen Seite des Tisches, als suchte sie ein Gespräch.

„Was ist mit deinem Gesicht passiert?", fragte Veronika über den Rand ihres goldenen Bechers.

Claudia fasste sich an die Wange, wo der Schnitt von gestern langsam verkrustete. „Neue kosmetische Behandlung. Winzig kleine Nadelstiche. Solltest du auch probieren, wirkt extrem verjüngend."

„Erzähl mir nichts. Das waren keine Nadeln."

„Na, schön. Als ich mich gestern Nacht heimlich mit meinem Geliebten in der Stadt getroffen habe, sind wir in ein nächtliches Treffen der Zeloten geraten und mussten überraschend flüchten. Dabei hatte ich einen unglücklichen Zusammenstoß mit einem Olivenbaum."

Alle Blicke am Tisch richteten sich auf sie. Lydia, die in einer Ecke hinter der Tafel stand, schnappte nach Luft.

„Sollte das witzig sein?" Pilatus' Stimme war scharf. „Zeloten sind Kriminelle und Feinde des Imperiums. Ich will an meinem Tisch keine schlechten Scherze in dieser Richtung mehr hören. Haben wir uns verstanden?"

Claudia senkte den Kopf, aber am liebsten hätte sie laut losgelacht. „Natürlich, Herr."

Glücklicherweise betrat in diesem Moment ein Soldat das Speisezimmer und rettete sie.

„Statthalter", sagte der Mann knapp und neigte den Kopf, um die Frauen zu begrüßen, bevor er sich wieder seinem Vorgesetzten zuwandte.

„Was gibt es?" Pilatus warf eine leere Muschelschale auf seinen Teller und wischte sich die Finger ab. Er schien nicht gerade begeistert, schon so früh am Morgen gestört zu werden.

Der Soldat duckte sich ein wenig und beäugte den Stadthalter von der Seite. „Die Pharisäer", sagte er. „Sie warten vor dem Prätorium."

Pilatus seufzte. „Schon wieder...Was ist es diesmal? Haben wir wieder irgendwelche Kultregeln gebrochen?"

„Nein." Der Soldat fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. „Sie fordern, dass du einem Mann verurteilst, den sie der Gotteslästerei anklagen."

Claudia, die gerade ihren Becher heben wollte, erstarrte mitten in der Bewegung.

„Gotteslästerung!?" Pilatus presste die Lippen zusammen und unter seinem Blick schien der Soldat zu schrumpfen. „Und deswegen kommst du zu mir? Ich habe ihnen schon oft gesagt, dass ich mich in ihre religiösen Angelegenheiten nicht einmische. Damit hat Rom nichts zu tun."

„Eben doch. Sie sagen, er hetzt das Volk auf, keine Steuern zu zahlen. Und er bezeichnet sich als ihr König."

„Wer behauptet das, Kajaphas?" Pilatus schnaubte. „Schlau ist er ja. Wenn er seinen Gegnern nicht irgendetwas Politisches anhängt, kann ich sie nicht umbringen lassen. Nun gut, sehen wir uns die Sache an."

Als er aufstand, erhob sich auch seine Frau. „Lass mich mitkommen", sagte sie leise, „Ich möchte sehen, was da vorgeht."

Pilatus nickte. Er schätzte seine Frau, das hatte Claudia in den wenigen Tagen, die sie in Jerusalem war, schon festgestellt. Anders als Damen wie Veronika war sie eine kluge Ratgeberin, die ihn sicher schon oft bei schwierigen Fragen unterstützt hatte. Solange sie sich im Hintergrund hielt und nicht öffentlich einmischte, war den meisten mächtigen Männern eine weise Ehefrau durchaus recht.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt