Auge in Auge

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Als Veronika den ersten Fuß auf die Straße setzte, hätte sie am liebsten gleich wieder kehrt gemacht.

In den schmalen Gassen der Altstadt drängten sie die Menschenmassen. Ganz Jerusalem war auf den Beinen, um vor dem Feiertag noch letzte Besorgungen zu erledigen.

Die Stimmung wirkte angespannt, Veronika strauchelte und stürzte fast, als sich ein paar Frauen an ihr vorbeidrängten. Die beiden schienen sie gar nicht wahrzunehmen, sie hasteten in eine der Seitenstraßen, als wären sie vor etwas auf der Flucht.
Ein Mann kam ihr entgegen, dicht gefolgt von einem kleinen Jungen, der ein Lamm hinter sich herführte. Er lächelte sie an, sichtlich stolz, doch sein Vater schien besorgt und beeilte sich fortzukommen.

Veronika atmete tief durch und zog ihren Schleier fester um den Kopf.
Es ist gut, dass so viel los ist, redete sie sich ein. Niemand wird auf dich achten. Du kannst mit der Masse verschmelzen, du bist eine von ihnen. Nur eine Frau beim Einkaufen...

Trotzdem machte sich Panik in ihr breit. Sie war eine römische Patrizierin, gewohnt in luftigen Villen und Wassergärten auf den Hügeln Roms zu leben...weit weg von den Problemen des gewöhnlichen Volkes. Wenn sie in die Stadt ging, dann war sie umgeben von Leibwächtern und Dienerinnen. Sie wusste nicht, wie man sich vor Räubern und Taschendieben schützte, wie man erkannte, wann ein Preis zu hoch war, wie man verhandelte, wie man sich verhalten musste, wenn man allein in einer fremden Stadt war...
Ich weiß nicht, wie man lebt, wurde ihr schlagartig bewusst.

Wie hatte sich Claudia das alles nur so schnell aneignen können? Sie beherrschte die Sprache der Plebs wie ihre eigene, als würde sie zu ihnen gehören... Wo hatte sie das gelernt?

Zum ersten Mal fragte sich Veronika ernsthaft, was Claudia in all den Jahren, in denen sie nebeneinander aufgewachsen waren wirklich getan hatte...
Wie hatte ihre Schwester sich gefühlt, als sie zum ersten Mal allein unterwegs gewesen war? Ähnlich wie sie jetzt? Vermutlich nicht, Claudia war schon immer die Mutigere gewesen...
Als sich einmal eine Giftschlange in ihr Zimmer verirrt hatte, war Claudia es gewesen, die sie mit einem Stock abgewehrt hatte, während sie selbst bloß zitternd und weinend auf ihrem Bett gestanden war.

Veronika straffte die Schultern. Das alles lag hinter ihr, die Vergangenheit konnte nichts mehr für sie tun. Claudia war nicht da, im Gegenteil. Jetzt war sie der Grund ihres Problems und es kam allein auf sie an, die Sache in Ordnung zu bringen.

Haltung, Veronika, Haltung, sagte sie sich, bevor sie in ihre ganz persönliche Hölle aus Lärm, Hitze und Menschenrücken eintauchte.

Auf der Agora und den anderen Marktplätzen war es noch schlimmer. Sie drängte sich zwischen Marktschreiern, Safrankörben und Amphoren voller Oliven hindurch, rempelte Leute an, ohne sich zu entschuldigen und versuchte dabei auch noch irgendein vertrautes Gesicht zu erkennen.

Erst als das Genattor in Sicht kam und sich die Menge ein wenig zerstreute, sah sie endlich ihre Schwester.

Sie, ihre Sklavin und ein Mann waren im Gespräch mit einem Händler am Tor. Claudia reichte ihm einen Beutel, im Gegenzug gab er ihr die Leine eines Esels. Dann wandten sie sich um.

„Claudia!" Veronika stellte sich auf die Zehenspitzen. „Claudia, komm zurück!"

Tatsächlich wandte sich ihre Schwester kurz um, suchte mit den Augen die Menge ab.

Doch es schien nicht Veronika zu sein, die ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte.

Ohne, dass Veronika es bemerkt hatte, war die Menschenansammlung um sie herum plötzlich größer geworden. Leute rannten zum Tor und stellten sich zu beiden Seiten auf, sie wurde geschubst und weggestoßen, weil sie mitten in der Straße stand.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt