Epilog

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Wenn der Tod einen Monat hat, dachte Markus, dann ist es der November.

Mit dem Wind bissen ihm winzige Eissplitter ins Gesicht, er zog den Kragen seines Umhangs bis zum Hals, als er die Villa verließ und zu Fuß nach unten in die Stadt stieg. Quintus erwartete ihn am Forum. Ihre inzwischen fast täglichen Besuche in der Therme waren das Einzige, für was er in letzter Zeit das Haus verließ.

Der Winter hatte Rom fest im Griff und mit ihm der Nebel, der seit Wochen wie eine Glocke über der Stadt hing. Er vermischte sich mit dem Geruch nach verbranntem Holz und Kälte. Dazu kam von Zeit zu Zeit ein schneidender Wind, vor allem hier oben auf den Hügeln blies er die Wärme schneller aus den Häusern, als die Sklaven heizen konnten.

Er hasste es, alles daran. November erinnerte ihn schon immer an den Tod und der wiederum an das, was er vor einigen Wochen getan hatte.
Selbstdisziplin war seit jeher seine größte Stärke gewesen und so verbot er sich konsequent an das Mädchen zu denken, dessen Körper mittlerweile irgendwo in den Nekropolen unter dem Vatikanum lag. Er hatte ihren Namen nie wieder ausgesprochen, sich geschlagen, wenn er auch nur an sie gedacht hatte. Tagsüber klappte das ganz gut, doch in den Nächten, wenn er verwundbar war und seine Verteidigung im Schlaf rissig wurde, kam es ihm vor, als würde er von einer fremden Macht gequält. Wie ein Gespenst spukte sie in ihrem weißen Kleid durch seine Träume. Immer schön, immer traurig und nicht selten erwachte er schweißgebadet.

Natürlich dachte er nicht daran, als er an diesem Tag zu Fuß durch die Straßen ging. Vor den Augen der Öffentlichkeit zeigte er keine Schwäche, niemals, und gleich welche Dämonen ihn plagten, am Morgen verschloss er sie hinter den Türen seiner Villa und verdrängte sie aus seinen Gedanken.

Markus hätte einfach eine Sänfte nehmen können, doch unter einem Berg von Decken durch die Straßen getragen zu werden war etwas für Frauen und Alte, nicht stolze Männer. So biss er die Zähne zusammen und lief selbst.
Unten in der Stadt war der Nebel noch dichter. Grau an grau reihten sich die Häuser vor ihm, die Fensterläden zugezogen oder gegen die Kälte mit Stroh gestopft, die Gassen wie leergefegt.
Er war mittlerweile in einem der ärmeren Viertel und beschleunigte seine Schritte. Während der Wintermonate zog es allerlei Gesindel vom Land in die Stadt, sie saßen als zerlumpte Gestalten in den Hauseingängen und der Senat hatte Mühe, die Lage zu überblicken. Vielleicht wäre es klüger gewesen, Wachleute mitzubringen...?
Hinter einer Biegung tauchte ein kleiner Markt auf. Hier war schon mehr los, Gelächter und der Geruch von Gewürzwein und heißen Maronen wehte zu ihn hinüber. Für einen Augenblick hielt er inne.

Ein Tippen auf seiner Schulter, ganz sachte nur, ließ ihn herumfahren.
Vor ihm stand ein junger Mann. Markus öffnete schon den Mund, um ihn anzuschreien. Arme Jugendliche, die auf den Märkten bettelten und Passanten ansprachen waren Alltag in Rom, doch er als Senator würde sich diese Belästigung nicht gefallen lassen! Dann aber fiel sein Blick auf das Gesicht des jungen Manns und er schluckte.

Der Junge vor ihm lächelte nicht, doch er schaute zugleich auch nicht ernst. War es überhaupt ein Junge? Von den Gesichtszügen hätte es auch ein Mädchen sein können. Er blinzelte und seine Augen schienen sein ganzes Gesicht zu erhellen. Es war nicht jung, es war nicht alt und mit einem Mal fiel Markus auf, dass der Junge außer einem dünnen weißen Gewand nichts trug. Nicht einmal Schuhe.
Was bist du?, wollte er fragen, doch die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Stattdessen krächzte er nur.

„Markus Aulus", sagte das Geschöpf jetzt. Seine Stimme war melodisch und ruhig, sie hallte in Markus' Kopf wider, fast glaubte er, der einzige auf diesem Platz zu sein, der sie wahrnahm. „Veronika schickt mich." Der Fremde griff in sein Gewand und zog ein Stück Stoff hervor. „Sie bedauert, dass du bei ihrer Hochzeit nicht teilnehmen konntest, sendet dir aber dies. Hier, nimm. Veronika braucht ihn jetzt nicht mehr. Zwischen ihr und ihrem Bräutigam sind alle Schleier gefallen und sie schauen einander von Angesicht zu Angesicht." Bei seinen letzten Worten hatten sich die Züge des jungen Mannes erhellt als wäre ein Licht auf ihn gefallen. „Fürchte dich nicht. Du hast eine starke Fürsprecherin."

Markus konnte nichts sagen. Er wollte, doch es ging nicht. Er nahm nicht einmal wahr, dass der Fremde verschwunden und der Schleier plötzlich in seinen Händen war.
Dieses Tuch hätte er aus hunderten erkannt. Der wasserartige Stoff, das feine Muschelseidengewebe, die Blutflecken, an exakt den gleichen Stellen... Es war Veronikas Schleier. Der Schleier, den er vor Wochen eigenhändig verbrannt hatte, der vor ihm zu Asche zerfallen war.

Seine Hände fingen an zu zittern. Von dem Tuch ging Wärme aus. Sie kroch in seine tauben Fingerspitzen, doch die Hitze, die jetzt seinen Rücken entlangjagte hatte nichts damit zu tun.

Etwas war anders. Der Schleier lag in seinen Händen, aufgefaltet, wie vor ein paar Wochen, als er ihn in die Feuerschale geworfen hatte. Er war der gleiche, wirklich der gleiche. Und während Markus noch darüber nachdachte, was bei allen Göttern gerade passiert war, sah er ihn.
Die Flecken, das Blut, sie verbanden sich vor seinen Augen zu einem Bild. Zuerst sah er es nur schwach, aber je länger er den Blick darauf gesenkt hielt, desto deutlich wurde es. Das Gesicht eines Mannes erschien auf dem Muschelseidetuch und was er sah ging weit über die Blutflecken hinaus.
Markus sah, was Veronika an jenem Tag in Jerusalem gesehen hatte, sah einen Mann in Schmerzen, einen Mann, dessen Blick ihm durch Mark und Bein ging.

Zeig mir deinen Gott, waren seine letzten Worte an Veronika gewesen.

Ich werde nicht aufhören zu bitten, dass du ihn erkennst.

Jetzt erkannte er ihn, durch welche Gnade auch immer. Er sah diesen Mann für den sie gestorben war, ihren Bräutigam. Er sah das Antlitz ihres Gottes.

Mein Herr und mein Gott, hatte Veronika gesagt.
„Mein Herr und mein Gott", sagte Markus jetzt.

Ein paar Minuten später war auf dem Markt ein Schrei zu hören. Als die Händler ihre Stände verließen, um nachzuschauen, was vor sich ging stießen sie auf eine Menschentraube, in deren Mitte der Senator Markus Aulus kniete. Er krümmte sich über ein weißes Tuch in seinen Händen als hinge sein Leben daran und weinte.
Ja, er weinte! Einfach so auf offener Straße und dabei sah er nicht aus, als sei er überfallen worden...
Gemurmel hob an. Hatte der junge Patrizier den Verstand verloren? War der Tod seiner Verlobten am Ende doch zu viel für ihn gewesen?

Einige Frauen streckten die Arme nach ihm aus, versuchten mit ihm zu sprechen... Schließlich stand er auf, am ganzen Körper zitternd und sah in die Menge.
„Veronika hatte Recht", flüsterte er.
Seine Faust öffnete sich, er hielt ihnen das Tuch entgegen, wie das letzte Beweisstück in einem langen Prozess. Dann hob der Senator seine Stimme, das Schweißtuch fest in den Händen. „Ich glaube", verkündete er der Menge, zuerst leise, dann immer lauter. „Ich glaube!"
Er wiederholte es, wieder und wieder, bis es von den Hauswänden hallte, bis es weitergetragen wurde, hinauf auf die Hügel, in die Villen und vor den Stuhl des Kaisers...
Das Zeugnis des Markus und der Veronika, ein Zeugnis, das sich wiederholen sollte, Jahrhundert um Jahrhundert, Heiliger um Heiliger:

Ich glaube.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt