Jerusalem

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Jerusalem, April 30

Claudia schob die Sänftenvorhänge zur Seite und sah hinab auf die Stadt, die sich zwischen den Hügeln ausbreitete.

Die Außenmauer mit den regelmäßigen Zinnen, die Häuser, Villen und kleinen Hütten, alles strahlte weiß in der Morgensonne. Ob es am Gestein der Region lag? Oder war hier das Licht einfach anders als zuhause in Rom?

Claudia hatte nicht gedacht, dass sich die Provinz Judäa so stark von Rom unterscheiden würde. Die ganze Region schien mit einer dünnen Staubschicht überzogen. Die Farben wirkten gedämpft, wie bei einem Kleidungsstück, das man zu oft gewaschen hatte. Selbst den Himmel trübte der Staub zu einem blassen Blau.

Auf einer Anhöhe in der Stadtmitte erhob sich ein gigantisches Bauwerk, gekrönt von Zinnen aus Gold, die das Sonnenlicht reflektierten und ihre Augen brennen ließen.

„Lydia? Was ist das für ein Palast?", fragte Claudia und deutete mit dem Finger aus dem Fenster ihrer Sänfte.

Die Frau gegenüber lehnte sich über die Kissen und folgte ihrem Blick. „Das ist der Tempel", erklärte sie. „Hier verehrt mein Volk Gott." Es war Lydia anzumerken, wie aufgeregt sie wegen der Rückkehr in ihre Heimat war. Den ganzen Weg lang, von ihrer Ankunft in der Küstenstadt Caesarea Maritima bis über ihre Reise durch das judäische Bergland, hatte sie den Kopf aus den Fenstern der Sänfte gesteckt und die Landschaft förmlich in sich aufgesaugt.

Claudias Augen wurden groß. „Davon habe ich gelesen", flüsterte sie ehrfürchtig. „Ich kann es kaum erwarten, ihn von innen zu sehen..."

Lydia wandte ihr den Kopf zu und lächelte mitleidig. „Ihr werdet ihn nicht von innen sehen, Herrin. Für Römer ist das Betreten verboten. Geht Ihr weiter, als bis zum Vorhof der Heiden, riskiert Ihr Euer Leben."

Von Veronika war ein spöttisches Schnauben zu hören und als sie Claudias enttäuschten Gesichtsausdruck sah, lachte sie laut auf. „Ist das dein Ernst, Schwester? Bist du traurig, weil du ihren unsichtbaren Göttern nicht huldigen kannst? Lass sie doch. Uns aus ihrem Kult auszuschließen, ist das Einzige, das sie noch tun können. Sonst haben wir doch schon alles erobert, was es gibt."

Lydia warf der jungen Herrin einen wütenden Blick zu, doch sie konnte nichts sagen. Der Unterschied zwischen ihr und der Tochter des Senators war zu groß und Widerrede nicht gestattet. Das wusste auch Veronika ganz genau und beobachtete lächelnd, wie Lydia die Lippen zusammenpresste.

Seit sie in Caesarea von Bord gegangen waren und in Begleitung einer berittenen Garde römischer Soldaten den Weg nach Jerusalem angetreten hatten, schien Veronika ihre Strategie geändert zu haben. Anstatt sie mit Missachtung zu strafen, sprach sie nun wieder. Dabei achtete sie allerdings penibel darauf, bloß nicht zu viel Herzlichkeit auszustrahlen und hielt sich an den Ton einer Dame aus der feinen Gesellschaft. Die meiste Zeit saß sie kerzengrade, die Hände vornehm gefaltet, in ihrer Ecke der Sänfte und unterhielt sich mit ihrer Leibsklavin. Sie war so perfekt, dass es nervte.

„Schau doch auch mal raus, Veronika, vielleicht hebt ein bisschen Sonnenlicht deine Laune...", bemerkte Claudia. Eigentlich hatte sie die Situation entspannen wollen, aber trotzdem konnte sie sich die Ironie nicht ganz verkneifen.

Veronika warf ihr einen kühlen Blick zu. „Um was zu sehen? Staubige Felsen und ein paar vertrocknete Bäume? Nein, danke. Ich werde mich mit dem Ort unserer Verbannung noch lange genug auseinandersetzten müssen, fürchte ich."

„Dann eben nicht." Claudia zuckte demonstrativ mit den Schultern und blickte wieder aus dem Fenster. „Also, mich interessiert es jedenfalls. Erzähl mir mehr, Lydia. Wo liegt der Palast unseres Gastgebers?"

„Seht Ihr das große Gebäude rechts unterhalb des Tempelbergs? Dort residiert der Stadthalter Roms. Die Anhöhe direkt zu unserer Rechten, dieser felsige Hügel dort, ist Golgatha, ein alter Steinbruch. Da lassen die Römer ihre Hinrichtungen stattfinden. Auf der anderen Seite, wenn ihr über den Tempelberg nach links schaut, ist noch ein Hügel. Habt Ihr ihn gefunden?" Claudia schirmte ihre Augen gegen das Licht ab und nickte. „Das ist der Ölberg. Reitet man dahinter weiter, kommt man geradewegs nach Betanien und Bethlehem, die Heimat meiner Eltern. Am Ende der Zeiten, wenn der Messias erscheint, wird er von dort, über den Ölberg und das Kidrontal in die Stadt einziehen, so ist es geweissagt. Jenseits des Ölbergs beginnt dann bald die Wüste. "

Langsam bewegte sich ihr Zug den Berghang hinab in die Stadt. Die Soldaten, die neben ihnen ritten, drängten mit ihren Pferden die Menge zur Seite und machten ihrer Sänfte Platz, während sie eines der Stadttore passierten. Für eine verhältnismäßig kleine Stadt war ungewöhnlich viel los. Von den Hügeln strömten ganze Karawanen an Menschen mit Gepäck, Lämmern und Lastvieh, sämtliche Verbindungsstraßen waren überfüllt.

Lydia wusste warum: „In einer Woche ist Pessachfest. Tausende von Pilgern kommen nach Jerusalem, um im Tempel zu opfern. Es ist einer der höchsten Feiertage."

„Tausende?" Veronika hob die Brauen. „Und das in dieser...Provinzstadt?"

„Täuscht Euch nicht. Allein das Gelände des Tempels ist zweimal so groß wie das Forum in Rom. Jerusalem kennt sich mit Pilgerströmen aus. Ihr werdet nächste Woche Menschen aus allen Regionen Palästinas und darüber hinaus hier sehen. Wir hätten zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können."

Bis sie den Palast erreichten, zählte Claudia ganze drei Marktplätze, auf denen alles angeboten wurde, von Nahrung, über Tauben und Lämmer zum Opfern. Die Gassen waren überfüllt und sie kamen nur langsam voran, aber Claudia war in ihrem Element. Sie hatte große Lust auszusteigen und sich im Trubel der Menge zu verlieren, die Leute zu beobachten, ihre Geschichten zu hören.

Doch sobald ihr Hauptmann das Kommando zum Anhalten gab und die Sänfte auf den Boden gestellt wurde, spürte sie ein flaues Gefühl im Magen. Sie hatte die letzten Wochen ihrer Reise genossen. Nun wieder in die gehobenen Kreise der römischen Gesellschaft zurückzukehren, fiel ihr nicht gerade leicht. Ob ihr neuer Vormund überhaupt erlauben würde, dass sie seine Villa verließen? Jerusalem war gefährlich für Römer und die Töchter eines Senators wurden sicher nicht gerade gern gesehen.

Veronika ging voran, raffte ihr Kleid und hob das Kinn, ganz die Römerin. Claudia verdrehte die Augen und folgte ihr, wobei sie darauf achten musste, nicht zu stolpern.

Als sie sich aufrichtete und zum Palast hinaufschaute, sah sie geradewegs in die Augen von Pontius Pilatus.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt