Mit Feuerzungen

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Der Himmel glühte.

Während die Sonne im Osten immer höher stieg, versank im Westen der erste Frühlingsvollmond hinter den Bergen Jerusalems. Zwischen den Olivenhainen verschwanden die Schatten und mit den Singvögeln erwachte auch die Stadt.

Es hätte ein normaler Morgen werden können.

In der Oberstadt kroch das Licht bereits die Hausfassaden hinauf, doch in der Unterstadt herrschte noch Nacht. So fielen die Frauen kaum auf, die im Rücken der Stadtmauer, knapp oberhalb des Essenertors, ein Haus verließen.

Das erste Drittel ihres Weges verbrachten sie in Dunkelheit. Erst als sie in die Oberstadt hinauf und der Sonne entgegenstiegen, konnte man mehr als nur ihre Umrisse erkennen.
Sie gingen schweigend und verließen Jerusalem recht bald durch das Gennattor. Vor zwei Tagen noch hätte man an dieser Stelle Blut auf den Steinen unter ihnen gesehen, aber der Regen hatte alles abgewaschen. Jetzt war die Erde wieder trocken und als der Weg anstieg, wirbelten ihre Füße bei jedem Schritt Staub auf ihre schwarzen Kleider, mit denen sie sich scharf vom Kalkstein um sie herum abhoben.

Das Schwarz war ein klares Zeichen und wer es sah, hielt sich fern. Dem Tod trat man nicht in den Weg. Man mied ihn wie eine ansteckende Krankheit, vor allem, wenn es ein so grausamer und gottverlassener wie der ihres Meisters gewesen war.

Hätte man unter die Schleier geblickt, die sie sich tief über die Stirn zogen, man hätte die Trauer in den Gesichtern der Frauen lesen können.

Für sie war die Sonne noch nicht aufgegangen. Nach dem Freitag, nach der Bestattung, als alles Leid vorbeigewesen war, hatte ihr Schmerz erst angefangen. Jener Schmerz, der sich nicht in Blut, sondern in Tränen maß. Als alle Welt wieder zum Alltag übergangen war, hatten sie geweint, verborgene Tränen hinter zugezogenen Fensterläden, wo sich die Sekunden zu Ewigkeiten spannten und die Hoffnungslosigkeit den Raum füllte, bis sie einem den Atem nahm.

Stille, Einsamkeit und ein unglaubliches Gefühl von Verlassenheit. Das war der Schmerz des Karsamstags.

Sie mieden den Blick zum Hügel Golgotha, als sie auf den Weg zu den Felsengräbern traten.
Weiter oben hatten reiche Bewohner der Stadt Grabhöhlen in den Stein schlagen lassen und einen kleinen Garten darum angelegt. Eines der Gräber gehörte dem Ratsherren Joseph von Arimathäa. Es war eigentlich für ihn gedacht gewesen, aber nun hatten sie einen anderen darin bestattet.

Auf den ersten Blick fiel an dem Grab nichts merkwürdiges auf. Erst wenn man näher trat, wie die Frauen, die es in wenigen Minuten erreichen würden, richtete sich der Blick des Betrachters unweigerlich auf eine Gruppe Männer, die am Boden rund herum lagen. Pilatus hatte die Soldaten vor dem Grab postieren lassen, um die Anhänger des Gekreuzigten daran zu hindern, seinen Leichnam heimlich an einen anderen Ort zu schaffen.
Jetzt aber schliefen sie wie erschlagen.

Hier stimmte etwas nicht. Ein römischer Soldat schlief während der Wache nicht ein. Niemals.

Der runde Stein, der das Grab verschloss, war ein Stück zur Seite gerollt. Durch den Spalt stahlen sich erste Sonnenstrahlen in die dunkle Kammer. Sie malten Wirbel in die kühle, staubige Luft, flossen über den Steinblock, auf den man den Toten gebettet hatte und erleuchteten die Leichentücher, die dort lagen.

An den Leinen haftete noch der schwache Geruch von Aloe und Myrrhe. Er hing in der Luft, wie das Parfüm eines Menschen in der Luft hängt, auch wenn sein Träger den Raum schon längst verlassen hat.

Denn etwas war seltsam. Es lag an den Tüchern. Manche von ihnen waren zerwühlt, als seien sie nach einer raschen Bewegung in sich zusammengesunken. Andere waren ordentlich gefaltet und beiseite gelegt, doch alle hatten sie eines gemeinsam:
Sie umhüllten keinen Körper mehr.

Die Sonne stieg höher, flutete die Dunkelheit der Kammer. Erst in ihrem Licht trat zu Tage, was schon die Leinentücher hatten vermuten lassen:

Das Grab war leer.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt