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Am Tag nach dem Tod ihrer Schwester weinte der Himmel.

Claudia sah ihren Vater auf seiner Bank im Atrium sitzen, den Blick auf das Wasserbecken gerichtet, das im strömenden Regen fast überlief. Wortlos setzte sie sich an seine Seite.

„Schon zurück?" Im Rauschen des Wassers ging seine leise Stimme fast unter. „Wo warst du?"

„Das weißt du ganz genau" Claudia versuchte ihm in die Augen zu schauen. " Wir haben deine Tochter beerdigt. Und du warst nicht dabei."

„Veronika-"

„-ist tot! Begreif es endlich. Sie liegt unten in den Nekropolen und egal wie lange du es leugnest, du machst sie nicht mehr lebendig."

Antonius schwieg. Es sah so müde aus. So alt. „Vielleicht sollte ich auch sterben."

„Vater!"

„Nein." Er wandte ihr das Gesicht zu und sie sah den Schmerz in seinen Augen.

Unser Vater liebt uns, hatte Veronika gesagt.

„Du verstehst nicht. Ich habe sie getötet. Ich bin schuld."

„Du hast nach bestem Gewissen gehandelt", sagte Claudia und wunderte sich über ihre Worte. Warum redete sie so mit ihm? War er nicht schuld? Er und Markus und der Senat und der Kaiser und die Zeiten und zum Schluss auch Veronika selbst?

Markus zumindest hatte seine Strafe erhalten. Veronika hatte sich ihm entzogen auf eine Art, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Er war bloßgestellt, ihr Blut an seinen Händen, er, der sich seiner Sache so sicher gewesen war. Im Tod hatte sie ihn besiegt.

Aber ihr Vater? Claudia wollte ihn nicht gebrochen wissen.
Veronikas Tod hatte sie erschöpft. Sie war müde vom Streit, von den Intrigen und Heimlichkeiten.
Was sollte sie für ihren Vater anderes empfinden als Mitleid? Er der alte Mann, verlassen in der Einsamkeit seiner Villa sitzend, ohne seine Frau, die für sich in ihrem Zimmer weinte.

„Was für einen Einfluss habe ich in diesem Land?", flüsterte er rau. „Ich war über zwanzig Jahre lang Senator und konnte meine eigene Tochter nicht retten. Sie haben sie mir weggenommen. Mein Kind. Wie soll ein Vater mit dieser Schuld leben? "

„Sie hat dir vergeben", erwiderte Claudia. " Veronika wollte nicht, dass über ihrem Grab Streit ist. Ich glaube...Ich glaube sie war wirklich im Reinen mit sich und der Welt."

Antonius nickte. „Ich will das glauben...dass sie Frieden gefunden hat. Claudia", sagte er plötzlich und sah sie an. " Ich weiß, ich kann nicht mehr gut machen, was ich dir und Titus angetan habe. Aber vielleicht können wir es noch einmal versuchen. Von neuem...auch deiner Mutter zuliebe...ich-" Er biss sich auf die Lippe. „Ich kann nicht noch eine Tochter verlieren. Der Gedanke bringt mich um."

Claudia dachte an Titus, an den Zorn in dem sie Lucius und ihn zurückgelassen hatte als sie nach Rom geeilt war. Sie streckte den Arm aus und drückte seine Hand. „Gib uns Zeit. Ich muss zurück nach Hause. Aber wenn du mich sehen willst: Unsere Türen stehen dir offen."

***

Als sie das Pinienwäldchen verließ und ihr Wagen auf das erleuchtete Haus an den Klippen zusteuerte begann Claudias Herz schneller zu schlagen.

Alles in ihrem Körper schmerzte. Sie war so müde. Von der Reise. Vom Leben.

Claudia war kaum ausgestiegen als Titus ihr schon entgegen rannte. Hinter ihm warfen die Öllampen ihres Hauses eine Lichtspur auf den Feldweg.

„Claudia", rief er, „Endlich! Es tut mir so leid, wirklich, du musst mir verzeihen, bitte-"

Er kam nicht weiter, denn Claudia hatte seine Worte in einer Umarmung erstickt.
Es war genug. Sie brauchte ihn, seine Nähe, seine Wärme, seinen Trost. Alles andere ertrug sie nicht.

„Halt mich fest", flüsterte sie, die Stirn an seine Brust gedrückt, „Halt mich einfach fest."

***

Wenn die Wochen nach Veronikas Tod sie eines lehrten, dann wie froh sie war, eine Familie zu haben.

Titus und Lucius waren ihre größten Stützen und jeden Tag, den sie nun aufstand, war sie dankbar für die beiden.

Ihr Vater hatte sein Versprechen wahr gemacht. Kaum eine Woche nach ihrer Ankunft besuchte er sie zusammen mit ihrer Mutter. Antonius hielt nichts mehr in Rom und so blieb er vorerst auf Capri, lebte eine Weile mit ihnen, half Titus und lernte seinen Enkelsohn kennen. Mit seinen eigenen Kindern hatte er nie so viel Zeit verbracht.

Einmal, als sie die beiden beobachtete, erinnerte sich Claudia an die Worte ihrer Schwester. Ich wollte, dass unsere Familie und du dich durch mich versöhnt.
Es war seltsam, aber auf eine gewisse Weise war es Veronika am Ende gelungen.

Über ihre Schwester sprachen sie selten, doch sie war trotzdem immer bei ihnen.
Claudia sah sie in der Trauer ihrer Eltern genauso wie in ihrer Freude, wenn sie mit Lucius spielten, dem Enkel, den sie erst richtig schätzen konnten, als sie gespürt hatten, wie sich Verlust anfühlte. Sie sah sie in den Augen ihres Vaters, dessen Illusionen von Rom und seinen hohen Idealen ihr Tod zerschmettert hatte.
Ja, sie sah sie auch in den Christen, die sich immer noch in ihrem Haus trafen. Nur um Veronikas Andenken willen ließ sie das zu. Sie selbst wollte vom Gott ihrer Schwester nichts wissen. In ihren Augen war er der wahre Schuldige an ihrem Tod. Er hatte ihr die Schwester genommen und das würde sie ihm nicht verzeihen.
Claudia hätte gerne an all das geglaubt, an das ewige Leben, an die Macht der Liebe, die alles besiegte, auch den Tod.
Aber sie konnte einfach nicht.

Von Zeit zu Zeit meinte sie Veronikas Geist zu spüren.
In den Versammlungen der Christen.
In den Anfängen der neuen Beziehung zu ihren Eltern.
In den Geschichten, die man sich über sie erzählte, sie, die sie schon fast als Heilige verehrten.
In der Sonne hinter der Nebelwand.
Im Sternenhimmel.

Es war, als blitzte dann ihr Lächeln auf, für den Bruchteil von Sekunden. Wenn sie danach greifen wollte, war es fort.
Flüchtig, wie der Wind, wie Wasser, das ihr durch die Finger rann.

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt