Die Neunte Stunde

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Veronika blinzelte. Wo bin ich?
Über ihr schwankte der Himmel, drehte sich, breitete sich aus, bis er mit einem dumpfen Schmerz wieder in seinen Rahmen zurücksank. Was ist passiert?

Instinktiv hob sie die Hand, um ihr Gesicht gegen die Sonne abzuschirmen und versuchte sich aufzusetzen.

„Langsam", sagte eine Stimme knapp oberhalb ihres Ohrs. Ein paar kräftiger Arme fasste sie an den Schultern und stützte sie, während sie sich in eine sitzende Position hievte. In ihrem Kopf drehte sich alles und es dauerte einen Moment, bis sich der Schmerz soweit gelegt hatte, dass sie nicht mehr das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Allmählich ließ das Pochen nach. Ihre Sinne schärften sich wieder.

„Mädchen?"

Veronika drehte den Kopf und sah zu dem Mann auf, der gesprochen hatte. Er redete Griechisch mit ihr. Offenbar hatte er sie als Ausländerin erkannt.
„Wer seid Ihr?", fragte sie und musterte ihn genau. Ihr Helfer war kein Römer, so viel stand fest. Er trug Haar und Bart anders, außerdem war er zu alt, um hier stationiert zu sein. Obwohl er offenbar darauf Acht gegeben hatte, sich unauffällig zu kleiden, zeugten allein die Stoffe seiner Gewänder von Wohlstand. Er musste einer der Bessergestellten der Stadt sein. Und irgendwoher kam er ihr bekannt vor.

„Mein Name ist Joseph", sagte er und senkte dabei die Stimme, auch wenn um sie herum kaum noch jemand zu sehen war. „Joseph von Arimathäa."

Die Menschenmenge hatte sich zerstreut. Nur noch ein kleiner Rest sammelte sich auf dem Felsenhügel des alten Steinbruchs in der Ferne. Veronika keuchte, als ihr Blick auf die drei Kreuze fiel, die dort in den Himmel ragten.

„Du bist eine Tochter des Pilatus", stellte der Mann fest, während er ihre Reaktion beobachtete. „Ich habe dich schon bei ihm im Palast gesehen."

„Ich bin nicht seine Tochter. Meine Schwester und ich sind Gäste aus Rom. Meine Schwester...Claudia, sie wollte..." Veronika schüttelte den Kopf und verscheuchte die Erinnerung.

„Es war mutig, dass du zu ihm gegangen bist", sagte Joseph von Arimathäa sachte. „Meine Diener und ich hatten große Sorge, du könntest nicht mehr aufwachen. Du hast eine Menge riskiert, nicht zuletzt den Zorn deines Gastgebers."

Erst jetzt fiel Veronikas Blick auf ihre blutigen Hände und das Tuch, das zwischen ihren Kleidern begraben war. Sie zog es unter ihrem Bein hervor und drückte es an sich. Dann schaute sie zu Joseph von Arimathäa hoch. „Seid Ihr ein Freund von ihm?"

Er zögerte. Veronika sah, wie an seinem Kiefer ein Muskel zuckte. „Ein wahrer Freund würde bei denen sein, die unter dem Kreuz stehen, nicht hier, feige, das Gesicht verbergend."

„Was hat er denn überhaupt verbrochen?"

Josephs Blick ging hinauf zum Felsen. „Er hat ihnen die Wahrheit gesagt. Nein, schlimmer", murmelte er. „Er hat die Wahrheit gelebt."

Veronika wurde aus seinen Worten nicht schlau. „Dann ist er unschuldig?"

„So unschuldig, wie kein anderer Mensch sein kann."

„Warum seid Ihr dann nicht dort oben bei seinen Angehörigen? Glaubt Ihr, die Soldaten machen mit Euch das gleiche, wenn sie herausfinden, dass Ihr zu ihm gehört?"

Joseph von Arimathäa wirkte auf einmal, als fühle er sich unwohl. „Komm." Mit einem Handzeichen rief er seine Diener heran, um Veronika aufzuhelfen. „Ich bringe dich zu Pilatus zurück. Du hast genug gesehen."

„Bitte nicht!" Sie packte ihn am Arm. „Noch nicht." Veronika sah ihm in die Augen. „Lasst mich hier bleiben."

„Eine Kreuzigung ist kein Anblick für junge Mädchen."

„Ich kann es ertragen."

„So, kannst du das?" Seine Stimme war eine Mischung aus Spott und mühsam unterdrückter Wut. „Dann hast du also schon mal zugeschaut, wie jemandem bei vollem Bewusstsein die Beine zerschlagen werden, nachdem Nägel-"

„Ihr habt bloß Angst!" Veronika funkelte ihn an, während Josephs Miene von Wut zu Überraschung wechselte. „Was ist los mit Euch, warum...?"

In diesem Moment fuhr ein Windstoß durch seinen Umhang. Für den Bruchteil von Sekunden klappte der Stoff zurück und offenbarte den Blick auf die Kleidung darunter.

Veronikas Augen wurden weit. Natürlich. Jetzt wusste sie, warum ihr Joseph von Arimathäa so bekannt vorgekommen war.

Er hatte die typische Kopfbedeckung abgelegt und die prunkvollen Gewänder geschickt unter seinem Umhang verborgen, doch jetzt beim näheren Hinsehen fielen sie ihr auf, wie sie zwischen dem braunen Stoff hervorschauten.

Veronika wich zurück, Bestürzung im Blick. „Ihr seid einer von ihnen, ein Mitglied des Hohen Rates! Heute Morgen vor Pilatus... da wart Ihr dabei. Ihr...Ihr gehört zu denen, die ihn ausgeliefert haben!"

„Nein." Joseph war bleich geworden. Ihre Worte schienen ihn zu erschüttern. „Ich nicht! Ich habe dagegen gestimmt", flüsterte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Nikodemus und ich...wir haben versucht, ihn zu retten. Wir waren für ihn, die ganze Zeit."

„Wenn es so ist, dann zeigt es!" Sie wusste nicht, woher plötzlich ihre Bestimmtheit kam. „Ihr habt ihn im Leben nicht retten können, seid wenigstens im Sterben bei ihm. Überlasst den Mördern nicht auch noch seine Todesstunde!"

Joseph öffnete den Mund, widersprach aber nicht. Stattdessen nickte er.
Wortlos nahm er Veronikas Hand, damit sie sich abstützen konnte, denn noch immer war sie unsicher auf den Beinen, und führte sie zurück auf den Weg.

Quälend langsam schleppte sie sich an seiner Seite den steinigen Berghang hinauf. Ihre Knochen schmerzten noch vom Sturz und als sie endlich auf dem Felsplateau ankamen, lehnte sie mehr an Josephs Schulter, als dass sie auf eigenen Füßen stand.

„Nicht weiter." Am Rand des Felsblocks hielt er inne. Hier stand schon eine Gruppe Frauen versammelt. Die Gesichter halb unter ihren schwarzen Schleiern verborgen klagten sie in einer Sprache, die Veronika nicht verstand. „Nur Angehörige dürfen näher zum Kreuz", erklärte Joseph flüsternd, aber seine Augen waren auf den Hauptmann der Soldaten gerichtet, der sich plötzlich erhoben hatte und zu den beiden Neuen herübersah.

Mit ein paar Schritten war er bei ihnen und baute sich vor Veronika auf. „Dich kenne ich", sagte er zu ihr, bevor er sich an Joseph wandte. „Sie ist ein Gast von Pilatus. Was machst du mit ihr, sie sollte nicht hier sein? Und warum hat sie Blut im Gesicht? Antworte mir!"

Joseph hob abwehrend die Hände. „Beruhigt Euch", sagte er, aber seine Augen verengten sich. Man konnte ihm deutlich anmerken, mit welcher Mühe er die Wut unterdrückte. Er war einer der bedeutendsten Persönlichkeiten dieser Stadt und trotzdem sprach dieser Soldat mit ihm, als sei er sein Sklave.

Wie oft hatte er sich so behandeln lassen müssen, seit die Römer seiner Stadt besetzt hatten? Wie lange bissen sich die Menschen hier schon auf die Zunge, wenn ihre Heiligtümer geschändet, ihre Traditionen mit Füßen getreten und ihre Kinder ermordet wurden?

„Es war einer Eurer Soldaten, der das hier zu verantworten hat!", sagte Joseph jetzt, „Ich habe das Mädchen auf der Straße gefunden. Seid dankbar, dass Pilatus noch nichts davon erfahren hat. Ich bin sicher, er wird nicht begeistert sein, wenn ich ihm berichte, wie ihr mit seinen Gästen umgeht."

Der Soldat zögerte einen Moment, sichtlich verunsichert. „Vielleicht stimmt das", sagte er schließlich, „Aber trotzdem. Sie muss zurück in den Palast."

Als er Anstalten machte, Veronika mit sich zu ziehen, schlug Joseph ihm den Arm weg. „Ich werde sie zurückbringen. Es gibt ohnehin noch etwas, das ich mit Pilatus besprechen muss und nach allem was heute passiert ist, erscheint mir das vernünftiger."

Dem Soldaten schien der Vorschlag nicht zu gefallen, doch Joseph hatte mit seinen Anschuldigungen einen wunden Punkt getroffen. Nicht einmal ein Hauptmann wollte riskieren, dass man sich bei Pilatus über ihn und seine Männer beschwerte. „Also schön. Aber wenn sie binnen einer Stunde nicht wieder dort ist, wo sie hingehört, dann-"

„-werde ich der nächste sein, der ans Kreuz geschlagen wird", beendete Joseph seinen Satz und kniff die Lippen zusammen. „Aber gewiss doch."

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt