Salz der Erde

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Capri, 33 n. Chr. 

Drei Jahre später

„Ist es noch immer nicht besser?"

Claudia trat zurück und schüttelte den Kopf. Aus der Wiege kam ein Husten, und wenn sich überhaupt etwas verändert hatte, dann hörte es sich noch atemloser an, als in der Woche davor. Sie drehte sich und sah zu ihrem Mann auf.

Titus war gerade erst aus der Werkstatt gekommen, er hatte sich noch nicht einmal zum Essen umgezogen, so eilig war es ihm gewesen, wieder zu seinem Sohn zu kommen. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, genau wie seine Frau hatte er in der letzten Woche kaum Schlaf bekommen.

„Ich habe Angst", sagte Claudia und obwohl sie es nicht wollte, hatte ihre Stimme einen weinerlichen Unterton. „Was ist, wenn es schlimmer wird?"

„Das wird es nicht." Titus legte die Arme um sie. „Lucius ist stark."

„Es sterben so viele Kinder" Claudias Stimme war belegt und sie musste schlucken, damit ihr die nächsten Worte nicht im Hals stecken blieben. „Er ist erst zwei."

„Unser Sohn stirbt nicht. Ich werde mit dem Arzt im Dorf sprechen. Er soll gleich morgen vorbeikommen."

Arzt!" Claudia schnaubte. „Diese Ärzte taugen doch nichts. Sie verlangen Geld für ein paar Kräuter, die an jedem Straßenrand wachsen. Wir bräuchten richtige Ärzte... Varus, der Leibarzt meines Vaters wüsste sicher-"

„Wir sind nicht in Rom!", unterbrach sie Titus, lauter als nötig. Immer wenn das Gespräch auf ihre Familie kam war er leicht reizbar, besonders in letzter Zeit. „Verzeih", sagte er als ihm sein Verhalten offenbar aufgefallen war. „Es ist auch für mich nicht leicht, meinen Sohn so zu sehen und zu wissen, dass ich ihm nicht helfen kann. Die Ärzte Roms wären sicher besser aber...das können wir uns einfach nicht leisten."

Claudia nickte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Du tust, was du kannst", sagte sie. „Vielleicht ist es nur eine lange Erkältung. Ich gehe in den Garten und hole mehr Kräuter. Ruh dich aus."

Als sie Titus den Rücken kehrte waren Tränen in ihren Augenwinkeln.

Ihr kleiner Kräutergarten lag auf der Seite ihres Hauses, die zur Straße hin zeigte. Ein Feldweg zog sich von ihrer Schwelle bis zu dem kleinen Pinienwäldchen in der Ferne. Alles an dieser Gegend war idyllisch, ihr Haus stand direkt am Rand einer der Klippen Capris. Die andere Seite der Fassade öffnete sich zum Meer hin, man konnte abends auf der Terrasse sitzen und den Sonnenuntergang ansehen oder die Steinstufen zum Strand hinabsteigen. Es war keine Villa und sie schwammen definitiv nicht in Reichtümern, aber das Zuhause, das Titus und sie sich eingerichtet hatten, war ihr eigener ganz persönlicher Traum.

Ein Traum war auch ihre Hochzeit gewesen. Claudia konnte sich nur noch bruchstückhaft an die Monate nach ihrer Flucht aus Jerusalem erinnern, sie waren an ihr vorbeigezogen wie ein Rausch aus hundert Emotionen.

Erst nach der Geburt ihres Sohns vor zwei Jahren hatten sich die ersten Schatten über ihr Familienglück gelegt. Alles begann als sie erfuhr, dass ihr Vater sie und Titus noch immer von seiner persönlichen Garde verfolgen ließ. Offiziell war sie nun mit einem römischen Tribun in Jerusalem verheiratet und Veronika, die seit drei Jahren ebenfalls vermisst wurde, lebte in ihrem Haushalt.

Obwohl Veronikas Verschwinden sie beunruhigte, war das nicht ihr Hauptgrund zur Sorge. Claudia hatte gehofft, dass ihr Versteckspiel nach ihrer Ankunft in Capri ein Ende haben würde, doch das war ganz offensichtlich ein Trugschluss gewesen. Ihr Vater gab nicht auf und noch immer, auch nach Jahren, musste sie jeden Tag überlegen, wem sie in ihrem Umfeld wirklich vertrauen konnte. So zu leben machte einsam und mittlerweile war sie müde von all der Angst und Vorsicht.

Claudia beugte sich über ihr Kräuterbeet und griff sich eine Handvoll Salbei. Während sie die pelzigen Blätter zwischen den Fingern verrieb, hörte sie plötzlich Veronikas Stimme im Kopf, die Worte, die sie damals bei ihrer Fahrt nach Jerusalem gesagt hatte: Die Verliebtheit ist schön, ich weiß. Aber sie geht vorbei. Und dann zählen nur noch die harten Fakten, Gold und Schutz, die dein Mann dir bieten kann.

Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass die Warnungen ihrer Schwester eintreten könnten. Titus hatte ihnen ein Heim geschaffen, sie hatten eine Familie gegründet.... Aber jetzt? Mit einem römischen Patrizier als Mann müsste sie keine Angst um ihr Kind haben. War es unverantwortlich, egoistisch Titus zu heiraten?

Schluss. Claudia stand auf und ballte die Hand zur Faust. Sie durfte diese Gedanken keine Minute mehr zulassen. Vor drei Jahren hatte sie eine Entscheidung getroffen und sie war sich darüber im Klaren gewesen, was das bedeutete. Sie würde nicht jetzt beim ersten Gegenwind an ihrer Ehe zweifeln, schließlich war sie nicht Veronika. An ihrer Entscheidung hatte sich nicht geändert. Sie stand dazu.

Aus dem Wäldchen in der Nähe waren Hufgeräusche zu hören. Claudia wandte sich um. Ein Wagen fuhr den staubigen Feldweg entlang auf ihr Haus zu. Sie schirmte die Augen gegen die Sonne und als sie sah, wer es war weiteten sich ihre Augen.

„Lydia!"

Die Frau lachte bei der Erwähnung ihres Namens, noch im Fahren sprang sie aus dem Wagen, lief auf Claudia zu und fiel ihr um die Arme. „Es ist so schön, dich zu sehen. Wie lange ist es her?"

Claudia schüttelte den Kopf. „Viel zu lange. Mindestens ein halbes Jahr. Du hast versprochen, mich öfter zu besuchen. Warum hast du nicht angekündigt, dass du kommst, ich hätte etwas vorbereitet..."

„Ich weiß." Lydia zuckte mit den Schultern. „Es ist eben ein gutes Stück von Rom bis hierher. Du musstest ja unbedingt in die Provinz ziehen."

Claudia trat einen Schritt zurück, um ihre ehemalige Leibsklavin anzusehen. Schon vor drei Jahren hatte es sie gewundert, dass Lydia nach Rom zurückgekehrt war auch nachdem sie ihr die Freiheit geschenkt hatte. Mittlerweile hatte sie dort sogar geheiratet und machte zumindest auf Claudia einen ziemlich glücklichen Eindruck.

„Wo ist dein Mann?", fragte sie und spähte zum Wagen hinüber.

„In Rom. Er ist nicht mitgekommen." Auf Lydias Stirn zeigten sich plötzlich Sorgenfalten. Sie sah Claudia an und bei aller Freude lag jetzt etwas Ernstes in ihrem Blick. „Ich bin nicht einfach nur für einen Besuch da, eher als Vermittler."

„Vermittler?" Sofort war Claudia alarmiert. Die letzten Jahre aus Flucht und Verstecken waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. „Für meinen Vater?"

„Nein. Es ist nicht so, wie du denkst." Lydia biss sich auf die Lippen. „Veronika ist zurück." 

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt