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So also hatte es Claudia geschafft, nachts heimlich in die Stadt zu kommen...

Veronika sah die Dienstbotentreppe hinab. Irgendwo, in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Mauer, wartete schon Johannes. Sie war als Dienstbotin verkleidet, in der Hoffnung, dass die Wachen sie ohne ihre Seide und den Schmuck nicht erkannten. Doch eigentlich war das gar nicht nötig gewesen, beide Posten, die Pilatus als Nachtwächter vor dem Durchgang aufgestellt hatte, nahmen keine Notiz von ihr.

Mit klopfendem Herzen raffte Veronika ihr Kleid und kletterte die schmale Stiege entlang zu Johannes auf die Straße. Auch Jerusalem schlief, bis zum ersten Hahnenschrei waren es noch ein paar Stunden. Genug Zeit für die Antworten, die Veronika dringend brauchte.

Johannes nickte zur Begrüßung, bevor er sie mit einem Winken anwies, ihm zu folgen und in einer Seitengasse verschwand. Sie liefen nebeneinander her, schweigend und nicht auffälliger als Schatten.
Veronika stellte keine Fragen, es war ihr gleich, wohin Johannes sie führte und für einen Moment fragte sie sich, was Claudia wohl dazu sagen würde, wenn sie ihre Schwester jetzt sehen könnte.

Vor einem der schmalen quadratischen Häuser am Stadtrand, in denen die einfachen Leute Jerusalems wohnten, hielten sie an. Die Fensterläden waren zugezogen und auf der Fassade lag Mondlicht. Es war dunkler als in den anderen Stadtteilen, denn die Öllampen, die sonst bei Nacht Straßen und Gassen erhellten, fehlten hier.

Johannes öffnete eine Tür und ging zur Seite, damit Veronika eintreten konnte. Im Innenraum war es fast so dunkel, wie auf der Straße. An der Rückwand glomm eine Feuerschale und in deren Licht sie die Umrisse einiger Frauen sehen konnte, die dort saßen und sich leise unterhielten. Das Haus war nicht groß, es schien noch einen Raum zu geben, doch es war zu dunkel, um Details zu erkennen.

Veronika tat es Johannes gleich und streifte ihre Sandalen ab, bevor sie ihm weiter in das Zimmer folgte. Auf dem Boden lagen Binsenmatten gegen die Kälte, sie spürte die ungewohnt raue Struktur unter den Füßen, doch ansonsten war die Einrichtung recht schlicht.

„Johannes?" Eine der Frauen am anderen Ende des Raums hatte gesprochen. „Ah, du hast sie hergebracht."

Johannes sagte etwas in einer anderen Sprache, während er Veronika in Richtung der Frauen schob und ihr einen Platz am Boden anbot. Erst als sie im Schein des Feuers stand konnte sie erkennen, wer von ihnen gesprochen hatte.

Die Frau war noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung. Über ihr Gesicht zogen sich schon feine Linien und sie trug einen Schleier über ihrem Haar. Sie lächelte. „Veronika. Ich bin froh, dass du gekommen bist."

Veronika zögerte. Was für eine Sprache hatte die Frau gesprochen? Sie konnte es beim besten Willen nicht heraushören und trotzdem hatte sie jedes Wort verstanden. Ihr Blick war freundlich aber eindringlich und auf einmal fühlte Veronika sich, als schaue diese Frau durch ihre Augen hindurch und viel tiefer in ihr Innerstes. Sie räusperte sich. „Johannes hat gesagt, Ihr hättet Antworten." Sie griff in ihre Tasche und zog den Muschelseideschleier hervor. Gegen die Dunkelheit im Zimmer wirkte er noch weißer als sonst. „Was hat das alles zu bedeuten? Was ist damals passiert?" Ihre Stimme zitterte und mit ihr das Tuch in ihren Händen.

„Ja", erwiderte die Frau. Sie lächelte jetzt nicht mehr, doch in ihrer Stimme lag noch immer etwas sanftes, wie bei einer Mutter, die ihr Kind tröstete, das sich beim Spielen verletzt hatte. „Was ist damals passiert?"

Veronikas Lippen bebten. Was wollte sie von ihr? Sie war nicht hier, um zu erzählen, sondern, um endlich Antworten zu bekommen. Erklärungen für die Bilder, die sie seit Wochen quälten. Und trotzdem, obwohl sie es gar nicht wollte, begann sie zu sprechen, wie als folgte sie einer stummen Aufforderung.

Sie erzählte von Markus, von ihrer Reise zu Pilatus, von Claudia und ihrem Verschwinden, bis zu dem Moment, an dem sie dem Mann unter dem Kreuz ihren Schleier gereicht hatte. Während sie erzählte, liefen ihr Tränen über die Wangen, es kümmerte sie gar nicht, dass sie Fremden ihre Lebensgeschichte erzählte. Diese Frau hatte etwas an sich, das einem das Gefühl gab, zuhause zu sein, als könnte man ihr jedes Geheimnis anvertrauen und sicher sein, dass sie es nicht gegen einen verwenden würde.

„Seitdem ist alles anders", endete sie schließlich „Die Dinge, die ich früher mochte, interessieren mich nicht mehr, ich... Was hat er mit mir gemacht? Ich wollte das alles nicht!"

„Und trotzdem hast du dich für ihn entschieden..." Als sie Veronikas verwirrten Gesichtsausdruck sah, lächelte die Frau. Sie war eine dieser Personen, deren ganzes Gesicht zu leuchten schien, wenn sie lächelten. „Es war deine freie Entscheidung, deinen sicheren Platz zu verlassen und zu ihm zu gehen. Du hattest Mitleid und wolltest ihm helfen. Niemand hat dich gezwungen, oder? Wenn sich jemand aus freiem Herzen und freiem Willen für Gott entscheidet, dann geht das nie spurlos an ihm vorüber. Glaube mir, ich bin das beste Beispiel." Wieder lächelte sie. „Du hast meinen Sohn in dein Leben gelassen, Veronika. Wundere dich nicht, dass er es jetzt auf den Kopf stellt."

Meinen Sohn?

„Wir können dir von ihm erzählen", kam es von Johannes. „Und wir werden dir alle Fragen beantworten. Was er gelehrt hat, dass er gestorben und auferstanden ist. Aber nichts, was wir sagen, wird dem nahe kommen, was du schon erfahren hast. Du hast ihn gesehen. So wie wir."

Veronika rückte ein Stück von ihnen zurück. „Ich kann nicht zu euch gehören. Ich bin eine Römerin, ich habe einen Verlobten, der Leute wie euch verachtet, ich war bis vor kurzer Zeit selbst so, ich..."

„Du kannst zu deinem Verlobten zurückkehren", sagte Johannes schlicht, „Du kannst jetzt aufstehen, gehen und dein Leben führen wie zuvor, kannst alles vergessen, was dir hier passiert ist. Es ist deine Entscheidung. Du bist frei."

„Aber du kannst auch bleiben. Deine Vergangenheit ist kein Hindernis", meinte die Frau sachte und schaute sie an. „Was auch immer du getan hast, das du heute bereust...Er hat dir vergeben, er hat mit seinem Tod für die Schuld aller bezahlt." Ihr Blick wurde sanfter und ihre Stimme war jetzt noch leiser als zuvor. „Du hast gesehen, wie seine Liebe ist. Willst du ihm folgen? Die Entscheidung liegt bei dir."

„Ich weiß nicht, wie", flüsterte Veronika, „Ich weiß nicht, ob ich das kann...Ich will mehr. Mehr von ihm hören, mehr wissen. Trotzdem muss ich zurück nach Rom, ich kann hier nicht bleiben."

„Wir werden die Zeit nutzen, in der du noch hier bist.", sagte Johannes. „Maria und ich werden dir helfen."

Die Frau nickte. Sie strahlte solche Ruhe aus, dass Veronika spürte, wie sie sich langsam selbst entspannte. „Setz dich zu mir", sagte sie, " Ich zeige dir meinen Sohn, ich führe dich zu ihm, wenn du mir vertraust. Und wenn du nach Rom zurückkehrst." Über ihre Lippen huschte ein Lächeln. „Dann wird er an deiner Seite sein."

VeronikaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt