Kapitel 39

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"Alles in Ordnung?", fragte ich sie besorgt und beobachtete sie mitfühlend, während sie sich mehr oder weniger hinsetzte und dabei schluchzte. Ihr Bruder würde mir das niemals verzeihen, wenn sie heute verletzt wird.

"J-ja, es ist nicht schlimm, aber er -" Sie hob keuchend den Kopf an. Das Gesicht war tränenüberlaufen. Ich folgte ihrem schmerzverzerrten Blick.

Schwer atmend stand Chris an der Wand gegenüber und starrte auf uns hinab. An seiner Stelle hätte ich längst die Beine in die Hand genommen und wäre abgehauen.

"Er ist die Treppe hoch geschlichen. Da Jasper nicht auf seinen Fersen war, bin ich ihm aus Neugier gefolgt. Ich habe gesehen, wie er eine Postkarte auf dein Bett legen wollte", erzählte Hanna leise und zitterte in meiner Umarmung. Ich schluckte und erhob mich, um ihr auf die Beine zu helfen.

"Ich muss mit ihm unter vier Augen reden. Shawn wird unten sein. Er kann dir helfen, okay?", sagte ich zu ihr. Nickend ging sie zu Tür, sah mich nochmal über ihre Schulter an und schloss die Tür anschließend hinter sich. Schweigend stand ich Chris gegenüber und wurde von ihm ebenso wortlos gemustert.

Die Konturen der Gruselpuppe, die er sich ins Gesicht gemalt hatte, waren teilweise verwischt. Ich bezweifelte, dass ich vor allem nach Samuels Kuss noch besser aussah.

Gott, daran wollte ich gar nicht denken!

"So, Chris, jetzt reden wir mal Klartext. Sind all die Postkarten, die ich in den letzten zwei Wochen bekommen habe, von dir?", fragte ich ihn und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Ich scannte ihn von Kopf bis Fuß ab.

Seine Schultern hielt er gesenkt, dem Beispiel folgte auch sein Kopf. Anscheinend schaute er auf die Postkarte in seiner Hand.

"Ich fürchte schon", antwortete er und streckte den Arm aus, um mir die Karte zu reichen, die er in der Hand hielt. Verunsichert nahm ich sie entgegen und sah Chris nochmal an, bevor ich mich an das Lesen der Karte machte.

"Ich liebe dich", stand in simpler Handschrift darauf, worauf mir die Postkarte beinahe aus den Fingern gerutscht wäre. Ich hob zögerlich den Kopf an und zog die Augenbrauen zusammen.

Da stand mir Chris gegenüber, völlig verunsichert mit den Händen in den Hosentaschen versunken. Ich konnte genau sehen, wie seine Schultern bebten, ihm rannte eine glitzernde Träne an der Wange herab.

Vollkommen überfordert ließ ich mich auf mein Bett fallen und forderte ihn mit einer Handbewegung dazu auf, sich neben mich zu setzen. Die Tatsache und Zustimmung machte mich irgendwie fertig. Da musste es einen Haken geben, wenn er das schon freiwillig zugegeben hat.

"Warum?", hakte ich weiter nach und rutschte näher an ihn heran. Ich hatte eine Schwäche für weinende Menschen, denn ich bekam Mitleid und legte automatisch meine Hand auf seinen Rücken.

Zwar hatte er bereits unzählige Male vor meinen Augen geweint, allerdings berührte es mich immer wieder aufs Neue. Zumal ich der Grund dafür war.

"Ich wollte Noah einen einzigen Gefallen tun, weil er es sich schon immer gewünscht hat", schluchzte er und vergrub das Gesicht in beiden Händen. Mit den Ellbogen stützte er sich auf seinen Oberschenkeln ab. "Die Postkarten habe ich nicht geschrieben, sondern er, als er noch... gelebt hat. Nie hatte er sich getraut, sie dir zu hinterlassen. Als seinen einzigen Wunsch habe ich das getan, wenn auch erst jetzt nach seinem Tod..."

Verwirrt runzelte ich die Stirn und klappte den Mund auf und dann wieder zu.

"Äh...", machte ich überrumpelt und wusste nicht ganz, was ich davon halten und dazu sagen sollte. "Manche Postkarten sind doch beleidigend gewesen. Hat mich Noah vielleicht doch gehasst?"

PUSSYCAT ✓Where stories live. Discover now