sechs

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Regen prasselte laut gegen meine Scheibe und riss mich aus meinem unruhigen Schlaf. Draußen tobte ein Sturm. Es war einer der ersten Herbststürme, die dafür sorgten, dass das lose Laub durch die Straßen peitschte. Ganz ähnlich sah es in meinem Inneren aus. Die Tatsache, dass Noah stinkwütend auf mich war, lag mir schwer im Magen. Zudem plagte mich noch ein schlechtes Gewissen. Ich hatte Leon in einer Nacht und Nebelaktion verlassen, ganz ähnlich so, wie ich damals meine Familie verlassen hatte.

Ihn zu verlassen war die richtige Entscheidung, da war ich mir sicher. Ich war nicht glücklich mit ihm und auch wenn ich bis zum bitteren Ende gekämpft hatte, musste ich mir eingestehen, dass er wahrscheinlich auch nicht glücklich mit mir war.

Die Entscheidung ihn verlassen zu haben war richtig, nur die Art und Weise wie ich es getan hatte nicht. Meine Brüder meinten zwar, ich solle mir darüber keinen Kopf machen, schließlich hatte er sich seit dem nicht einmal bei mir gemeldet, aber ich tat es trotzdem. Schon als Kind hatte ich wegen allem Möglichen ein schlechtes Gewissen gehabt. Manche Sachen so banal, dass ich mich am liebsten selber dafür ausgelacht hätte. Und auch heute konnte ich es noch nicht abstellen.

Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Leon anzurufen und mich dafür zu entschuldigen und der Tatsache, dass es ihn wahrscheinlich nicht interessieren würde, stand ich schließlich auf. Aus leisen Sohlen lief ich runter ins Erdgeschoss.

Das Haus lag ruhig und verlassen vor mir. Henrik war schon früh zur Arbeit gefahren und Noah und Johannes wohnten beider nicht mehr hier. Ich ging in die Küche und betrachtete das Chaos. Zwei leere Flaschen Gin standen auf dem Tisch, daneben unsere benutzten Teller und Gläser, Chipstüten und Bonbonpapier lag dazwischen verteilt.

Zuerst warf ich den Müll weg und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Dann widmete ich mich den leeren Flaschen Gin. Unglaublich, dass wir zu viert zwei Flaschen geleert hatten. Aber wenn wir eins waren, dann trinkfest. Schon früher hatte ich mit meinen Brüdern problemlos mitgehalten.

Nachdem ich auch noch die gesamte untere Etage gesaugt hatte, stand ich im Wohnzimmer und blickte aus der großen Tür, die hinaus in den Garten führte. Der Sturm hatte nachgelassen und ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen bahnte sich den Weg durch die dicke Wolkendecke. Es war wie der Lichtblick, den ich gebraucht hatte. Die Sonne, die auch in stürmischen Zeiten nicht aufgab und sich selbst durch die dicksten Wolken kämpfte.

Da ich nicht wusste, wohin mit mir, zog ich mir kurzerhand meine Jacke und Schuhe an und verließ das Haus. Die Fußgängerzone war keine 10 Minuten von hier entfernt. Vielleicht würde mich ein Stadtbummel von meinen kreisenden Gedanken ablenken können.

Ich schlenderte an den Geschäften vorbei, schaute mir die verschiedenen Schaufenster an und genoss die Sonne, die jetzt Ende Oktober immer seltener zu sehen war. Meine Augen blieben an einem Friseurladen hängen. Ohne lang darüber nachzudenken, betrat ich den kleinen Laden.

♦♦♦

Nervös saß ich auf dem Friseurstuhl und betrachtete ein letztes Mal meine langen blonden Haare.

„Sind Sie sicher, dass Sie ihre schönen Haare abschneiden wollen?", fragte die Friseurin hinter mir. Und wie ich mir sicher war. Ich nickte.

„Auf jeden Fall. Ab damit und das Blond soll auch verschwinden."

„Ok. Wie Sie wollen, dabei ist es ein wirklich schönes blond." Sie lächelte mich an. Ich hatte meine braunen Haare nur Leon zuliebe blond gefärbt. Ich selber hatte mich nie wirklich als Blondine gesehen.

Die ganze Prozedur dauert fast zwei Stunden. Doch das Ergebnis war die lange Zeit wert. Ich schaute in den Spiegel und musste einfach lächeln. Meine Haare reichten mir nicht mal mehr bis zu den Schultern. Ich hatte sie in einem leichten Bob schneiden und in einem warmen Mittelbraune färben lassen. Die Farbe meiner Haare passt hervorragend zu meinen Augen und betone diese noch mehr. Es war ein seltsames Gefühl, als ich mir mit den Händen durch meine Haare hindurch strich.

„Gefällt es Ihnen?"

„Und wie." Ich lächelte die Friseurin strahlend an. Nachdem ich bezahlt hatte, verließ ich den Laden und schlenderte weiter durch die Fußgängerzone. Mittlerweile war die Sonne verschwunden und dicke Wolken schoben sich unaufhaltsam in meine Richtung. Ich sollte mich schleunigst auf den Heimweg machen, wenn ich nicht innerhalb von drei Tagen das zweite Mal klitschnass werden wollte.

Mit schnellen Schritten bog ich in eine neben Straße ab, um anschließend eine Abkürzung durch einen kleinen Park zu nehmen. Es fühlte sich seltsam an, wieder durch die mir bekannten Straßen zu laufen. Seltsam, aber richtig. In all den Jahren war mir gar nicht bewusst geworden, wie sehr mir meine Heimat gefehlt hatte. Der Niederrhein war einfach ein ganz besonderer Ort. So einzigartig. Trotz der Tatsache, dass wir ländlich wohnten, waren wir innerhalb weniger Minuten in der nächsten Großstadt, dank der Nähe zum Ruhrgebiet.

Die ersten Tropfen begannen vom Himmel zu fallen und landeten auf meinem Kopf. „Scheiße."

Ehe ich mich versah, schüttete es wie aus Eimern. Schutzsuchend rannte ich in den nächstbesten Laden, um mich dort unterzustellen.

Ein Glöckchen klingelte, als ich den Laden betrat. Ich schaute mich um. Mir war gar nicht klar gewesen, in was für einen Laden ich geflüchtet war, doch als ich mich jetzt umschaute, musste ich feststellen, dass ich in einem Piercing und Tattoo Shop stand.

Neugierig sah ich mich um und ging zu den Vitrinen mit den Ohrpiercings. Ringe und Stecker in verschiedenen Größen und Farben lagen sauber aufgereiht darin.

„Kann ich Ihnen helfen? Heute gibt es ein besonderes Angebot. Drei für zwei", sagte eine Stimme hinter mir. Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Eine junge Frau, nur ein paar Jahre älter, stand hinter mir und lächelte mich freundlich an. Ihre Arme waren von oben bis unten tätowiert und auch an ihren Ohren gab es kein Flecken, das nicht von einem Piercing belegt war. „Ich schaue nur danke", sagte ich und wendete mich wieder dem Schmuck zu.

„Wobei, eine Frage hätte ich doch. Ich habe mir vor einigen Jahren mehrere Piercings an den Ohren stechen lassen und länger keinen Schmuck getragen. Müssten die neu gestochen werden, oder kann man jederzeit wieder neuen Schmuck einsetzten?"

„Zeig mal her, dann kann ich es dir gleich sagen" , die junge Frau lächelte mich erneut an und zog sich ein Paar Einweghandschuhe über. Ich schob meine Haare hinter mein Ohr und hielt es ihr hin. Sie schaute einen Moment. „Also hier hast du vier Ohrlöcher und ein Helixpiercing, richtig?" Ich nickte „Ja und auf der anderen Seite zwei Ohrlöcher und ein Fronthelix." „Ok. Das sollte kein Problem sein, da neuen Schmuck reinzumachen. Es kann sein, dass es im ersten Moment etwas weh tut, aber die Löcher sind nicht zu gewachsen." „Ok. Das klingt gut. Dann würde ich das gerne machen lassen." „Hast du deinen eigenen Schmuck dabei?" „Nein, leider nicht, aber ich habe schon einiges gesehen, was mir gefällt."

Ich zeigte ihr, für welche Teile ich mich entschieden hatte, für meine Ohrlöcher jeweils eine kleine silberne Kugel, für mein Helixpiercing ein Ring mit winzigen Glitzersteinen und für mein Fronthelix einen kleinen Stecker mit einem Stein. Wie die Piercerin gesagt hatte, tat es zwar im ersten Moment etwas weh, sorgte aber dafür, dass ein berauschendes Glücksgefühl durch meine Adern jagte. Als ich den Laden verließ, hatten sich zu meiner Freude die dicken Regenwolken verzogen und ein paar schwache Sonnenstrahlen kamen zum Vorschein. Meine Ohren pochten zwar im Rhythmus meines Herzschlages, sorgten aber auch dafür, dass sich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete.

Was glaubt ihr, wird Lin als nächstes tun?

Seid ihr eher der Typ, der impulsiv handelt oder lasst ihr euch lieber alles zwei Mal durch den Kopf gehen?

Ich find btw super krass das die Geschichte schon fast 80 Views hat, obwohl sie gerade mal ne gute Woche online ist. Vielen Dank dafür

LET LOVE GROWWhere stories live. Discover now