neununddreißig

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Wie vorhergesagt, verfiel meine Mutter in hektische Aufregung, sobald sie bei uns ankam. Sie hielt sowohl Henrik, also auch Johannes so sehr auf Trab, dass beide kaum eine Sekunde zum Durchatmen hatten. Auch mich wollte sie in ihren Wahnsinn mit hinein ziehen, doch zu meinem Glück musste ich arbeiten und hatte daher eine Ausrede, gegen die sie nichts unternehmen konnte.

Auf der Arbeit war heute nicht viel zu tun. Es war ein heißer Donnerstagnachmittag. So heiß, dass die wenigsten Leute Lust hatten, einen Kaffee zu trinken. Um die Zeit totzuschlagen, machte Mia uns einen Eiskaffee. Wir setzten uns an einen der kleinen Tische in die gemütlichen Sessel. „Wenn du magst, kannst du heute gerne früher gehen. Es ist ja nichts los, das schaffe ich auch alleine", sagte sie und nahm einen Schluck aus dem riesigen Glas.

„Danke, aber lieber nicht. Bei uns zu Hause ist das totale Hochzeitschaos ausgebrochen", lehnte ich ab. Fragend sah Mia mich an.

„Meine Eltern sind gestern gekommen und Mama dreht ein bisschen durch. Sie hatte bis jetzt nichts mit der Planung zu tun und nun ja, jetzt muss Johannes ihr den gesamten Ablauf erklären und was weiß ich. Wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, da nicht mitmischen zu müssen." Mia schüttelte lachend den Kopf. „Das könnte meine Mutter sein."

Ich musste schmunzeln. Mia war wirklich ein Goldschatz und obwohl wir uns noch nicht lange kannten, war es schön, mit ihr zu reden. Sie war von Anfang an mir gegenüber offen, sodass es mir leichter fiel, mich ihr ebenfalls zu öffnen. Vor einiger Zeit, an einem Abend, an dem eine Menge Wein floss, hatte ich sie sogar in das Chaos meines Lebens eingeweiht. Sie war die erste Person außerhalb meiner Familie, mit der ich offen über die Sache zwischen mir und Julian geredet hatte. Und das hatte wirklich gut getan. Da sie eine Außenstehende war, konnte ich sich eine objektive Meinung bilden und war nicht, wie Nic oder mein Bruder, befangen.

„Ich habe am Wochenende mit Julian getanzt", platzte es aus mir heraus. Mia zog die Augenbrauen hoch. „So so, getanzt also?", frech grinste sie mich an und strich sich eine lange, rote Strähne aus dem Gesicht. Ich schnaubte. „Ja, getanzt" „Und?", fragte sie. „Was und?" „Na ja, wie hat es sich angefühlt?" „Perfekt", brummte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Es war einfach nur perfekt. Und zum Ende wollte er mich küssen."

„Und was wolltest du?", bohrte sie nach. „Ich wollte es auch", gab ich zu. Es war zwecklos, meine Gefühle zu verleugnen. Das hatte ich schon einmal getan und es hatte nichts gebracht. Vielleicht konnte ich, wenn ich sie endlich akzeptierte, leichter damit abschließen. „Aber?", fragte Mia. „Ich weiß auch nicht", frustriert ließ ich mich tiefer in den Sessel fallen. „Dann verstehe ich das Problem nicht." Mia schaute mich an. „Du hast immer noch Gefühle für ihn und anscheinend hast du ihm auf irgendeine Art und Weise verziehen. Er will dich offensichtlich immer noch, was ich ihm nicht verdenken kann, und zwischen euch beiden gibt es eine Verbindung. Warum also solltest du dir das Glück verwehren?"

Über diese Frage musste ich einen Augenblick nachdenken. Bei Mia klang das alles so einfach. Ein Kuss und alles würde sich zwischen uns wieder einrenken. Ein Kuss und alles würde wieder so wie früher werden. Und doch hielt mich irgendwas zurück. „Ich habe Angst", sagte ich schließlich. „Er hat mir schon einmal das Herz gebrochen. Ich habe Angst, dass wenn er beim nächsten Mal mit seinen Dämonen konfrontiert wird, er mich erneut verletzt."

„Und was, wenn er es nicht tut? Ich meine, ich kann das verstehen. Du hast eine schlechte Erfahrung gemacht und nachdem du dich auf jemand neuen eingelassen hast, hat auch er dir das Herz gebrochen, aber du hast es überlebt. Und jetzt sieh dich an. Du siehst verdammt scharf aus und hast dein Leben endlich im Griff. Stell dir vor, was du alles schaffen könntest, wenn du auch noch Unterstützung von einem großartigen Mann bekämst. Versteh mich nicht falsch. Du brauchst keinen Mann, um erfolgreich zu sein, aber jemand, der dir den Rücken frei hält, wäre bestimmt nicht zum Nachteil." Mias Ansprache brachte mich zum Nachdenken. Vielleicht hatte sie recht. Was wäre, wenn Julian es wirklich ernst mit mir meinte. Wenn er wirklich bereute, was zwischen uns passiert war.

Bis zum Feierabend kamen nur wenigen Kunden, aus diesem Grund hatte ich einen einigermaßen entspannten Tag, was man von meinen Brüdern und meiner Mutter nicht sagen konnte. Als ich nach Hause kam, war der gesamte Esstisch mit Blumen in kleinen Vasen und anderer Tischdeko bedeckt. Fragend sah ich Henrik an

„Frag nicht. Mama möchte, dass wir morgen schonmal die Location vorbereiten. Also hat sie uns gezwungen, heute schon mal  etwas zu basteln", er zog eine Grimasse und schob einen Stapel weißer Lilien von sich. „Flieh so lange du noch kannst, sonst wird sich dich auch noch einspannen", rief Johannes vom Wohnzimmer. „Au!", jammerte er kurz darauf.

Meine Mutter kam, mit einem Handtuch bewaffnet und einem breiten Grinsen im Gesicht zurück in die Küche. „Mein Zukünftiger hat von solchen Sachen leider keine Ahnung", Lisa, die dicht hinter meiner Mutter ebenfalls die Küche betrat, lachte leise. Den Rest des Abends verbrachten wir damit, die Tischdeko für die Hochzeit fertig zu bekommen.

Kurz bevor ich ins Bett ging, kam meine Mutter noch einmal in mein Zimmer. „Hallo, mein Liebling", sanft lächelte sie mich an. Ihre Augen strahlten eine liebevolle Wärme aus. „Hi, Mama. Was gibt's?" „Nichts, was soll es geben? Ich wollte nur noch mal  nach meiner Tochter sehen. Geht es dir gut?" Ich nickte. „Das freut mich. Nach der ganzen Sache mit Leon hatten dein Vater und ich uns ein wenig Sorgen um dich gemacht." Ich erwiderte nichts, sondern zog sie wortlos in meine Arme und drückte sie an mich.

„Mir geht es gut, Mama. Wirklich", sie erwiderte meine Umarmung und gab mir einen Kuss auf meinen Haaransatz. „Zeig mir doch mal das Kleid, dass du zur Hochzeit tragen willst." Sie löste sich von mir, strich mir noch einmal liebevoll über den Kopf und drehte sich dann zu meinem Kleiderschrank um.

Ich musste grinsen. Mamas Umarmungen waren schon immer die besten. Egal wie schlimm alles im Augenblick auch erscheinen mochte, nach einem Augenblick in Mamas Armen ging es einem immer besser. Ich öffnete meinen Kleiderschrank und fischte ein blassrosanes Kleid mit tiefem Ausschnitt und einem Schlitz bis zur Mitte des Oberschenkels hervor.

„Wow", meine Mama stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Wann bist du nur so  erwachsen geworden?", fragte sie und betrachtete das Kleid ein wenig genauer. „Du wirst wunderschön darin aussehen." „Danke", erwiderte ich.

LET LOVE GROWWhere stories live. Discover now