sechsunddreißig

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Julian ließ nicht locker. Mittlerweile waren seit meinem Besuch bei ihm zwei Wochen vergangen. Ich hatte jeden Tag mindestens eine Nachricht von ihm bekommen, in der er mich bat, noch mal mit ihm zu sprechen. Irgendwann gab ich seiner Bitte nach und verabredete mich mit ihm am Rhein. Ich erhoffte mir nicht wirklich viel von diesem Treffen und betete, dass es schnell vorbei sein würde.

Als ich meinen Wagen auf den Parkplatz lenkte, sah ich ihn schon von weitem auf der Bank sitzen. Unserer Bank ... Ich schob diesen Gedanken beiseite und stieg mit hocherhobenem Haupt aus dem Auto. Er sollte auf keinen Fall merken, wie aufgewühlt ich wegen des Gespräches war. Ich befahl mir, tief ein- und auszuatmen, um ein bisschen lockerer zu werden. Sobald Julian mich sah, stand er auf und kam lächelnd auf mich zu. Kurz vor mir blieb er stehen und schaute mich verunsichert an. Offenbar wusste er nicht, wie er mich begrüßen sollte.

Ich nahm ihm die Entscheidung ab, indem ich sein Lächeln kühl erwiderte und mich anschließend auf die Parkbank sinken ließ. Dann schaute ich ihn erwartungsvoll an. „Ich ...", fing er an. Er schaute mir nicht in die Augen und spielte nervös mit seinen Fingern herum. Komm zur Sache, dachte ich, behielt den beißenden Kommentar aber für mich. Julian schien sich wieder gefasst zu haben, den nun sah er mir fest in die Augen.

„Es tut mir leid", sprach er es schließlich aus. „Was tut dir leid?", meine Stimme war ruhig. Ich versuchte, so wenig Emotionen wie möglich zuzulassen. Ich wollte ihm eine Chance geben, sich zu erklären, doch meine Wut würde mir im Weg stehen, wenn ich diese zulassen würde.

„Alles, Lin. Wie ich mich verhalten habe, wie ich dich behandelt habe ... einfach alles." Aufrichtigkeit schimmerte in seinen Augen, als er mir direkt in meine sah. „Ich habe echt Mist gebaut und ich verstehe, dass du sauer bist, aber ich möchte, dass du weißt, warum ich so reagiert habe."

Mit erhobener Augenbraue sah ich ihn erwartungsvoll an. Auf diese Geschichte war ich mehr als gespannt. Julian holte tief Luft und begann dann zu erzählen. „Ich war gerade auf dem Weg zum Auto, um zu dir zu fahren, da rempelte mich so ein Typ an, hielt mir ein Messer an die Kehle und wollte alle meine Wertsachen haben. Ich war für einen Moment wie erstarrt, doch dann habe ich reagiert und dem Typen klargemacht, dass diese Aktion eine ganz dumme Idee ist. In diesem Augenblick hatte ich gar nicht realisiert, was los war.  Ich habe einfach nur daran gedacht, meinen Arsch zu retten ... danach, als ich schließlich endlich bei dir war, habe ich in meinem Auto vor deiner Haustür gesessen und da ist dann irgendwie alles auf mich eingestürzt.

Es war wie ein Flashback. Ich hatte das Gefühl, die Vergangenheit hätte mich eingeholt und ich erlebte diese schreckliche Nacht von vor ein paar Jahren immer wieder vor meinem geistigen Auge", zitternd fuhr er sich mit der Hand über sein Gesicht. Die Dämonen von damals waren also wieder an die Oberfläche gekommen und hatten ihn zurück in die Vergangenheit katapultiert. Einen Moment lang sah ich ihn nur an, ohne zu wissen, was ich sagen sollte.

„Warum bist du dann nicht zu mir gekommen?", stieß ich schließlich aus. „Ich hab nicht darüber nachgedacht. Ich weiß auch nicht. Irgendwie war es eine Kurzschlussreaktion. Ich wollte einfach nur vergessen und meinen Kopf zum Schweigen bringen", niedergeschlagen sah Julian auf die Spitzen seiner polierten Anzugschuhe. Seine Aussage führte dazu, dass sich ein beißender Schmerz in meiner Brust ausbreitete. Hatte er mir so wenig vertraut, dass er lieber getrunken und gefeiert hatte, als mit mir darüber zu reden?

„Weißt du, was ich nicht verstehe? Ich habe wirklich gedacht, wir wären Freunde. Ich habe gedacht, wir bedeuten einander was und können auch über die Sachen reden, die uns nachts den Schlaf rauben. Ich verstehe nicht, wie ich mich so sehr in uns täuschen konnte." „Du hast dich nicht getäuscht, Lin. Ich hab..." „Du hast was?", unterbrach ich ihn scharf. „Wenn ich mich nicht in dir getäuscht habe, dann erklär mir doch bitte, warum du lieber Party machst und mit irgendwelchen Schlampen rummachst, als zu mir zu kommen und verdammt noch mal darüber zu reden", schrie ich ihn an.

Der Schmerz, der in meiner Brust anschwoll, wandelte sich langsam aber sicher zu einer brodelnden, heißen Wut. Ich hatte kein Verständnis für solch eine Reaktion. Ich wollte dich nicht belasten", gab er zu. Wieder mied er es, mir in die Augen zu sehen. Eine Tatsache, die dafür sorgte, dass ich nur noch wütender wurde.

„Du hast in der letzten Zeit genug durchgemacht und deine eigenen Probleme und Kämpfe hinter dir gehabt. Ich wollte dich nicht auch noch mit meinem Scheiß runterziehen." „Es ist nicht deine Aufgabe, zu entscheiden, was ich verkrafte und was nicht", brachte ich mit erstickter Stimme raus. Es verletzte mich ungemein, dass er mich so sah. Dass er offenbar nicht genug Vertrauen in mich und meine Stärke hatte.

„Weißt du Julian, du hättest alles von mir haben können. Alles. Ich wäre dein gewesen, mit Haut und Haaren, aber du, du musstest einfach alles wegwerfen. Und das nur, weil du der Meinung warst, ich sei nicht stark genug, um damit fertig zu werden? Ich bin keine schwache Frau, verdammt. Ich wäre für dich da gewesen, egal, was gerade bei mir abgeht. Ich hätte fast alles für dich getan!"

„Lin ...", diesmal unterbrach Julian mich, doch ich schüttelte nur den Kopf.

„Nein. Du hörst mir jetzt zu", sagte ich bestimmt. „Weißt du, was für mich Freundschaft bedeutet? Loyalität. Ich stehe hinter dir, du stehst hinter mir. So läuft das, und nicht anders. Die Tatsache, dass du lieber in den Club fährst, mit irgendwem rummachst und trinkst, hätte ich notfalls noch akzeptieren können, wenn du mir gesagt hättest, was passiert ist, aber die Art und Weise wie du mich behandelt hast, wie du mich angesehen hast, das kann ich nicht akzeptieren. Du hast mich angeschaut, als würde ich dir nichts bedeuten. Als wäre ich nur ein Fick von vielen.  Als wäre ich ein Nichts und das, Julian, das werde ich dir niemals verzeihen. Du hast mich weggestoßen und verleugnet. Du hast mich bloßgestellt und mir das Herz direkt vor den Augen des halben Clubs aus der Brust gerissen", endete ich meine Rede. Julian sah mich einen kurzen Moment an, dann begann er zu sprechen. „Ich wollte dich nur schützen, dich nicht mit in meinem Scheiß hineinziehen. Verdammt, ich bin nicht der richtige Mann für dich. Ich habe in diesem Moment geglaubt, dass dies der richtige Weg sei, doch jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war. Es tut mir aufrichtig leid", seine Stimme brach und er senkte erneut den Blick.

Für einen Moment hatte ich Mitleid mit ihm. Doch die Wut in meinem Inneren verdrängte jedes aufkeimende Mitgefühl. Ich hatte meine Antworten bekommen. Ich wusste, wieso Julian so gehandelt hatte, doch ich konnte es nicht nachvollziehen. Konnte ihm nicht verzeihen. Und wenn ich ehrlich zu mir selber war, wollte ich das auch gar nicht.

„Fahr zur Hölle, Julian." Ich gestattete mir einen letzten Blick auf Julian, erlaubte mir, ihn noch einmal so zu sehen, wie ich ihn noch vor wenigen Monaten gesehen hatte. Ich sah den Mann, der mein Freund gewesen ist, den Mann, in den ich mich schlussendlich verliebt hatte. Und dann, dann ließ ich ihn gehen.

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