fünfunddreißig

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Ich hoff', dass in der Dunkelheit eine deiner Wunden heilt
Auch wenn hier schon so lange kein Funke scheint Nicht allein - Nina Chuba






Natürlich fuhr ich, wer hätte es auch anders erwartet, zu Julians Wohnung. Nachdem ich die halbe Nacht wachgelegen und mir Gedanken über Lucas Worte gemacht hatte, entschied ich mich schließlich doch, nach ihm zu sehen. Nicht für mich, nicht für ihn, sondern für seine Freunde und meinen Bruder, die sich offensichtlich große Sorgen um ihn machten. Von mir aus konnte Julian verrecken, das redete ich mir zumindest ein. 

Ich parkte meinen Wagen vor Julians Wohnung und blieb noch eine Weile sitzen, um mir den nötigen Mut zusammenzukratzen. Die Vorstellung, Julian gleich wieder gegenüberzustehen, sorgte dafür, dass sich eine leichte Übelkeit in meinem Inneren breit machte.

In Gedanken hatte ich mir schon genau zurechtgelegt, was ich sagen wollte. Immer wieder ging ich die Worte durch, bis ich mich schließlich bereit fühlte.

♦♦♦

Julian reagierte nicht auf mein Klingeln. Frustriert stieß ich einen Schwall Luft aus und drückte erneut den Knopf der Klingel. Warum zum Teufel machte er nicht auf, wenn er doch, wie Luca sagte, die Wohnung nicht verließ? Langsam wurde ich echt wütend. Mit meiner Faust hämmerte ich schließlich wütend an die hölzerne Wohnungstür.

„Julian, mach die verdammte Tür auf!", rief ich. Immer noch keine Reaktion. Wütend drehte ich mich um und stapfte die ersten Treppenstufen nach unten, als ich hinter mir ein Geräusch wahrnahm. Leise öffnete sich die Wohnungstür einen Spalt breit.

„Was willst du hier?", fragte er mich. Er hörte sich müde an. So unendlich müde.

Ich unterdrückte einen bissigen Kommentar und sagte stattdessen: „Luca und Henne machen sich Sorgen. Sorgen um dich." Julian zuckte nur mit den Schultern. 

„Glaub mir, ich habe auch nicht wirklich Lust hier zu sein, aber die beiden haben echt nicht nachgelassen, also wärst du so freundlich, kurz mit mir zu reden?" Julian schien einen Moment zu überlegen, öffnete die Tür aber schließlich weiter und ließ mich eintreten.In seiner Wohnung war es dunkel. In allen Zimmern waren die Rollläden heruntergelassen und die Luft roch muffig und abgestanden.

Ich drückte mich an Julian vorbei und nachdem er die Tür hinter mir geschlossen hatte, erlaubte ich mir, ihn einen Moment genauer anzusehen. Luca hatte nicht übertrieben. Julian ging es wirklich nicht gut. Das konnte man schon an seinem Äußeren ausmachen. Seine sonst so sauber und akkurat gestylten Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht. Ein dunkler Bartschatten verpasste ihm ein ungepflegtes Aussehen.

Er lief, ohne etwas zu sagen, an mir vorbei in Richtung Wohnzimmer und ließ sich aufsein Sofa fallen. Überall lagen leere Essensverpackungen, Bierflaschen und ein voller Aschenbecher herum. Julian hatte anscheinend seit Tagen nicht mehr aufgeräumt. Mit hochgezogener Augenbraue sah ich mich um. „Nett hier." „Was hast du gesagt?", murmelte Julian. Ich schüttele nur den Kopf und schob mit dem Fuß einen leeren Pizzakarton beiseite. Dann ließ ich mich auf den Sessel fallen.

Wir schwiegen eine Weile. Julian wich jedem meiner Blicke aus, während ich ihn ganz genau musterte, jede seiner Bewegungen wahrnahm. „Also? Was ist los?", durchbrach ich die Stille schließlich. Julian schwieg weiter.

Langsam wurde mir die gesamte Situation zu blöd. Offensichtlich wollte Julian nicht mit mir sprechen. Ich erhob mich von meinem Platz und lief zur Tür. Das alles hier war reine Zeitverschwendung. Ich hatte mein Bestes getan und doch war es vergebene Mühe. Kurz bevor ich den Flur erreichte, drehte ich mich noch einmal um. Julian schaute geistesabwesend aus dem Fenster, runter auf die Lichter der Stadt. „Es tut mir leid ...", murmelte er. Ich erstarrte und atmete einmal tief durch. „Was tut dir leid?", flüsterte ich, so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er es überhaupt gehört hatte. „Na ja ... alles?", es klang wie eine Frage. Ich unterdrückte ein Schnauben.

Für einen Moment, einen winzig kleinen Moment, hatte ich die Hoffnung, er würde sich wirklich aufrichtig entschuldigen wollen. Doch meine Hoffnung verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Er sagte nur das, was ich hören wollte. Oder zumindest was er zu glauben schien. „Ich bin nicht deswegen hier", sagte ich kühl. Für diese Art von Spielchen hatte ich keine Kraft. Ich wollte mich nicht schon wieder schlecht fühlen. Nicht wieder wegen Julian.

„Es ist okay, wenn du dich gerade in der Dunkelheit verlierst, aber du musst einen Weg zurück finden. Zurück zu dir selbst. Du musst zurückkommen und das musst du alleine schaffen, aus eigener Kraft. Und wenn du es nicht schaffst, dann such dir bitte Hilfe. Professionelle Hilfe." Ich drehte mich erneut um und verließ, mit einem traurigen Lächeln, ohne auf eine Antwort zu warten, die Wohnung.

♦♦♦

Zu Hause erwarteten mich bereits Luca und mein Bruder. Die Zwei saßen im Garten auf der Terrasse. Wortlos setzte ich mich zu ihnen. Fragend sahen sich mich an. Ich schüttelte nur den Kopf. „Fragt nicht. Das gesamte Gespräch war reine Zeitverschwendung. Ich habe nichts aus ihm herausbekommen." Luca fuhr sich enttäuscht mit der flachen Hand über die Stirn, dann griff er nach seinem Stock und hievte sich von seinem Platz hoch.

„Dann hättest du dich vielleicht ein bisschen mehr anstrengen müssen!", wütend schaute er mich an. „Du hattest doch von Anfang an keine Lust, mit ihm zu sprechen. Wahrscheinlich hast du dich einfach nicht genug bemüht." Perplex schaute ich ihn an. War das sein Ernst?

Gerade wollte ich zu einer Antwort ausholen, die sich gewaschen hatte, doch mein Bruder fuhr dazwischen. „Red' nicht so mit meiner Schwester! Du kannst froh sein, dass sie überhaupt mit ihm gesprochen hat!", fauchte er Luca an.

„Danke, aber wie ich schon mal gesagt habe: Ich kann meine Kämpfe selbst ausfechten", sagte ich an meinen Bruder gewandt, dann drehte ich mich zu Luca um: „Und du, mein Lieber", ich deutete mit dem Finger auf ihn, „solltest aufpassen, wie du mit mir sprichst. Ich hätte wirklich darauf verzichten können, Julian noch mal wiederzusehen. Und trotzdem habe ich es gemacht. Ich habe mir Mühe gegeben, verdammt!", mit verschränkten Armen schaute ich Luca wütend an. „Es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Es ist nur ... es ist genauso wie beim letzten Mal", entschuldigend schaute er mich an. „Das ist nicht mein Problem", achselzuckend stand ich auf und lief in mein Zimmer.

Ich hatte in den letzten Tagen und Wochen bewusst Abstand zu Jules und seinen Freunden gesucht, um besser mit allem fertig zu werden. Um besser mit der Tatsache klarzukommen, dass ich nicht das für Julian war, was er für mich war. Er hatte mir mein Herz gebrochen und das, ohne sich großartig dafür anstrengen zu müssen. Er hatte mich mit einer Leichtigkeit verletzt, mit der er es zuvor geschafft hatte, mein Herz zu erobern. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und griff nach meinem Handy. Es zeigte eine ungelesene Nachricht an. Mein Atem stockte einen Moment, als ich den Absender bemerkte.

Julian 20:01: Danke Lin. Ich weiß, das hättest du nicht tun müssen. Danke.

Ich löschte sie, ohne darauf zu antworten. Schließlich hatte ich mit ihm abgeschlossen.

Doch kurz darauf leuchtete mein Display erneut auf und kündigte eine weitere Nachricht von Julian an

Julian 20:06: Können wir noch mal reden?

Auch diese Nachricht ignorierte ich.

LET LOVE GROWWhere stories live. Discover now