Kapitel 3

206 17 17
                                    

It's not stalking if you don't follow them home, right?
- Laini Taylor, Night of Cake & Puppets -

Das Ganze war jetzt ein Jahr her.

Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ich die Gedanken anderer Menschen lesen konnte, was vor allem an dem Schmerz lag, der jedes Mal meine Schläfen durchzuckte und meine Augen brennen ließ und auch daran, dass ich es immer noch nicht kontrollieren konnte.
Jedes Mal, wenn ich einem Menschen lange genug in die Augen sah, las ich seine Gedanken. Und das war erstens in manchen Situationen ziemlich anstrengend und zweitens waren die Gedanken, die ich las, nicht besonders schön.

Doch heute wollte ich nicht daran denken.
Es war März und mein Bruder Leo feierte seinen Geburtstag.
Später wollten wir alle zusammen feiern, doch bevor ich mich um die Organisation kümmern musste, war ich schon früh vor dem Rest meiner Familie aufgestanden, um ein wenig am River laufen zu gehen.

Endlich konnte ich meinen Gedanken freien Lauf lassen.
Heute fühlte ich mich irgendwie merkwürdig und ich wusste nicht, woran das lag. Eigentlich sollte ich mich mit Leo freuen. Schließlich wurde er heute fünfzehn Jahre alt und nach den Sommerferien würde er in die obere Stufe der Schule kommen, in der auch ich war. Damit fing für ihn der ernsthafte Teil an. Die Leistung würde gesteigert werden, sein späterer Beruf würde festgelegt werden und er musste sich auf ein Thema spezialisieren.

Das Thema hatte ich mir bereits ausgesucht: Sprache.
Den Beruf würde ich in vier Monaten wählen müssen. Diese Entscheidung war endgültig und konnte nicht rückgängig gemacht werden.
Eine Beförderung war natürlich möglich, aber der Beruf blieb für immer.
Zu Auswahl standen Erzieherin, Lehrerin für Sprache und Archivarin in der Stadtbibliothek.

Mir fiel die Entscheidung unglaublich schwer. Alle drei Möglichkeiten kamen für mich in Frage. Ich liebte Kinder, ich liebte Sprache, aber vor allem liebte ich Bücher über alles. Deswegen war die letzte Möglichkeit fast mein Favorit, auch weil die Aufgabe des Archivars die mit der größten Verantwortung war.
Immerhin waren die Bücher, die die Bibliothek beheimatete, der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich und streng geheim.
Nur wenige Menschen durften dort hinein.

Zum Beispiel mein Vater.
Als Politiker brauchte er ständig neue Lektüre, um sich weiterzubilden.
Trotz des Besuchsverbots hatte er, als ich noch kleiner war, öfter mal die Regeln gebrochen und mich mit in die Bibliothek genommen.
Uns war es nicht erlaubt, Bücher zu Hause zu besitzen, außer die Gesetzbücher, ein Nachschlagewerk, die Bibel, das Buch mit unserer Familiengeschichte und ein paar Vorlesebücher für die Kinder.
Da es kaum noch Bäume gab, konnte somit auch kein Papier hergestellt werden, deswegen waren die meisten Dokumente digital einzusehen und zu erstellen.
Doch richtige Bücher, die man zum Vergnügen lesen und anfassen konnte, gab es nicht.
Deshalb war es meinem Vater wichtiger gewesen, und war es noch, als alles andere, dass mein Bruder und ich intelligent und gebildet aufwuchsen, weshalb er uns zu seinen Besuchen mitnahm und uns alles, was es zu lesen gab, in die kleinen Hände drückte.

Damals liebte ich es, mich im hintersten Winkel des großen Gebäudes zu verstecken.
Meist nahm ich mir Stapel mit Büchern, die ich verschlang, als hinge mein Leben daran. Oft verstand ich nicht mal worum es ging, doch ich saugte jedes Wort in mich auf und lernte es.

Mit bereits vier Jahren konnte ich lesen und nahm an einem Wettbewerb für Hochbegabte teil, den ich gewann.

Irgendwann hatten meine Mitschüler mich mit ihren Lesefähigkeiten eingeholt und wir waren auf einem Stand. Ab da wurde mein Leben so gewöhnlich wie das von jedem, doch die Leidenschaft für Bücher und das Lesen blieb.
Natürlich erzählte ich niemandem, dass ich noch anderes las als das, was uns erlaubt war.
Ich war mir nicht sicher, was die Konsequenzen wären, aber schön wären sie sicher nicht.

TelepathyWhere stories live. Discover now