Kapitel 36

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What is a Wanderess? Bound by no boundaries, contained by no countries, tamed by no time, she is the force of nature's course.
- Roman Payne, The Wanderess -

Am nächsten Morgen stand ich früh und putzmunter auf und lief schon mal zum Zelt. Dort packte ich meinen Rucksack und übte Kampf und Verteidigung.

Bei den Holzfiguren traf ich mit den Messern jedes einzige Mal ins Herz und schaffte es mit Leichtigkeit.

„Sehr gut," hörte ich da hinter mir.
Reign stand da und klatschte in die Hände.
„Danke," sagte ich und kam lächelnd auf sie zu.
„Heute wirst du es Violet zeigen," sagte sie. „Trotz dem, was zwischen euch vorgefallen ist."
„Ja, aber das ist Geschichte. Ich bin längst über Alec hinweg."
„Aber nicht darüber, was sie und er getan haben."
Ich seufzte. „Es wurmt mich einfach, dass sie nie ihren Fehler eingesehen und sich nie entschuldigt hat. Sie macht sich einen Spaß daraus, mich zu veräppeln."
„Dann ist jetzt heute deine Möglichkeit, ihr zu zeigen, dass mit dir nicht zu spaßen ist. Wenn du willst, kannst du echt knallhart sein."

Wir grinsten beide.

„Wegen dem, was du letztens gesagt hast...," sagte sie dann.
„Ja?," fragte ich erwartend.
„Ich wollte es nicht vor den anderen sagen, aber ab und an mache ich mir auch Gedanken zu den ganzen Sachen, die du angesprochen hast."
„Das heißt, du willst auch mehr herausfinden?," hakte ich nach.
Sie seufzte. „Ja, schon, aber wie willst du das machen?"
Sie holte mit den Armen aus. „Wir sind mitten in der Wüste, hier ist nichts als Sand! Und wir können nicht einfach so jemanden fragen."
„Das sehe ich anders," sagte ich. „Wir können Jai fragen. Oder Odie oder Blake oder..."
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass die, ganz besonders nicht Blake, dir irgendetwas sagen würden? Außerdem will ich mir keinen Ärger einhandeln und eine Strafe bekommen, so wie du."

Ich sah sie ungläubig an. „Sie können uns doch nicht einfach eine Strafe aufbrummen, nur weil wir Fragen stellen! Das ist keine Diktatur, in der wir hier leben!"
„Nein, aber sie können theoretisch alles mit uns machen, was sie wollen, wir können nicht einfach so weg."
Ich runzelte die Stirn. „Natürlich können wir das. Wenn du willst, können wir gleich morgen früh losgehen, zurück nach Houston."
„Will ich aber nicht. Es geht mir gut hier. Ich bin sicher."

Ungläubig starrte ich sie an. Ich konnte nicht glauben, diese Worte aus ihrem Mund zu hören.

„Woher willst du das wissen? Nur weil sie dir das gesagt haben? Vielleicht ist das alles eine riesige Lüge und..."
„Quinn, bitte!," rief sie auf einmal und hielt mich an den Armen fest. „Ich hinterfrage gewisse Dinge, genau wie du, aber irgendwo ist auch Schluss. Hör bitte auf, hinter jedem Strauch eine Gefahr zu vermuten! Wir müssen einen anderen Weg finden, unsere Antworten zu bekommen."
„Und hast du eine Idee?," fragte ich, doch bevor sie antworten konnte, trafen auch schon die anderen ein.

Phoenix nickte lobend. „Super, dass du schon trainierst. Ich nehme mal an, du freust dich auf den Ausflug?"
„Ich bin motivierter als je zuvor," antwortete ich.
Er hob den Zeigefinger. „Ich habe hohe Erwartungen an dich, Quinn. Enttäusche mich nicht!"
Ich schüttelte den Kopf. „Keine Sorge. Ich habe keine Angst mehr."
„Wir freuen uns auf jeden Fall, dich zurück zu haben. Dann lasst uns unsere Sachen zusammen packen und losgehen."

Das taten wir und setzten uns dann in Bewegung.
Nach einem Zwischenstopp bei der Oase liefen wir schließlich zum Wald und betraten erneut das grüne, angenehm kühle Paradies, das noch immer nur so vor Leben strotzte, ganz im Gegensatz zu der sandigen Todesfalle hinter uns.

Die Erinnerung an das Ereignis vor drei Monaten kam mir ins Gedächtnis, komischerweise machte sie mir aber wirklich keine Angst, das vorhin hatte ich nicht nur so gesagt. Im Gegenteil, ich fühlte mich so stark wie noch nie und wollte nichts anderes, als es Violet zu zeigen.

Die Strategie diesmal war immer noch die gleiche wie damals.
Allerdings hatte die Gruppe in der letzten Zeit nur kleine Tiere geschossen, wie Hasen oder Füchse. Wie letztes Mal war auch heute das Ziel, eine Bestie zu erlegen.
Wir gingen dieses Mal zu einem anderen Baum, da anzunehmen war, dass die Bestien intelligent waren und sich unseren Standort merkten.

Wir platzierten uns so, dass wieder Reign und Jona als erstes schießen konnten und wir anderen dann das Tier mit den Messern vollständig unschädlich machten.
Violet war in meiner Gruppe dabei. Zum Glück hatte sie keine Waffe, da würde ich mich in ihrer Gegenwart nicht wohlfühlen.
Ryu hatte Phoenix dazu zu geraten. Es gab nicht mal einen richtigen Grund dafür, außer, dass ihr niemand so wirklich vertraute. Und vielleicht wollten sie auch den Fehler, den sie mit mir gemacht hatten, nicht wiederholen.

So leise es ging warteten wir im Baum und sogar Violet war schlau genug, den Mund zu halten.

Nach stundenlangem Warten und dem Tod zweier Hasen, hörten wir endlich das erwartete Rascheln und da kam sie auch schon aus dem Gebüsch: eine riesige, knurrende Mutation, deren blitzende Augen das Dunkel erhellen.
Neben mir hörte ich, wie Violet scharf einatmete und ihr ganzer Körper sich anspannte. Das wäre dann das erste Mal, dass ich sie in Angst erlebte.

„Oh mein Gott, das Ding ist ja riesig!," sagte sie lauter als nötig.
„Shh!," zischte ich.
„Was?," rief sie patzig und blitzte mich an.
„Sei leise oder wir werden alle sterben," flüsterte ich.
„Ach wirklich? Ich habe gehört, dass ihr letztes Mal aus anderen Gründen fast draufgegangen wärt," sagte sie und senkte auch diesmal nicht ihre Stimme.
Ich verdrehte die Augen. „Halt die Klappe, Violet," sagte ich, diesmal lauter.
„Wie bitte?" Sie sah mich entrüstet an. „Sag sowas noch einmal und..."

Die Bestie stieß ein grollendes Geräusch aus und ich hielt Violet schnell die Hand auf den Mund.

Doch so blöd wie sie war, schlug sie diese natürlich weg und regte sich sofort auf.
„Phoenix, diese blöde Kuh fasst mich an!"
Ich glaubte, ich hörte nicht richtig.
„Sie sollte dich eher vom Baum schubsen," antwortete er. „Und jetzt sei still, sonst werfe ich dich dem Tier da zum Fraß vor."
Er zeigte auf die Bestie, die jetzt vor den Baum trat.
Violet erstarrte sofort und gab ab jetzt keinen Mucks mehr von sich.

Reign und Jona machten sich bereit, zu schießen, doch Phoenix flüsterte: „Noch nicht."
Die Bestie zuckte mit den Ohren und sofort waren wir wieder still. Langsam bewegte sie sich auf uns zu, ihre schweren Tatzen ließen den Boden beben.
Nur noch wenige Meter, dann war sie genau unter unserem Baum.
„Macht euch bereit," sagte Phoenix.
Er wartete noch, bis sie die perfekte Position erreicht hatte, dann flüsterte er: „Jetzt."
Sofort richteten Reign und Jona ihre Waffen auf das Tier und drückten öfter als ich zählen konnte, ab.
Das Tier grunzte und schrie ohrenbetäubend laut auf, während es zur Seite umfällt.

Genau jetzt war unser Zeitpunkt.

Jamie, Olivia und ich sprangen vom Baum auf den weichen Bauch des Tieres und bohrten unsere Messer und Speere in diesen.
Allerdings machte es dem Tier fast nichts aus, die Haut war offensichtlich zu dick.
Die Bestie schien den ersten Schock und Schmerz überwunden zu haben, denn sie begann sich aufzurichten.
Olivia, die hinten am Rücken war, konnte sich plötzlich nicht mehr halten und fiel kurz aufschreiend runter.
Das Tier lag dennoch immer noch auf der Seite, also nutzte ich meine Chance und robbte vorwärts und schlug ihm dann so fest wie ich konnte in die Halsschlagader.
Mit einem lauten Plumps fiel es endgültig zu Boden und blieb reglos liegen.
Ich fühlte mit meiner Hand den blutüberströmten Hals nach der Schlagader ab und stellte dann fest, dass die Bestie keinen Puls mehr hatte.

Ich schaute zu Phoenix und schüttelte lächelnd den Kopf.

Man konnte förmlich spüren, wie die Anspannung von allen abfiel. Sogar Phoenix, der immer noch vorsichtig war, hob die Mundwinkel.
Ich sah nach Olivia, doch ihr ging es gut und auch sie schaute erleichtert.

Wir warteten, bis das Tier größtenteils ausgeblutet war und schulterten es dann. Sogar zu siebt war es aber noch unglaublich schwer und wir kamen nur langsam voran.

Als wir aus dem Wald schließlich raus waren, hatte sich der Himmel bereits verdunkelt.

TelepathyWhere stories live. Discover now