Kapitel 15

95 13 2
                                    

Mastering others is strength, mastering yourself is true power.
- Lao Tzu -

Als ich aufwachte, blickte ich mich um und fand mich auf der Krankenstation wieder.
Saige saß neben mir und strich mir mit einem kühlen Tuch über die Stirn.

„Hey, das bist du ja wieder," sagte sie lächelnd und obwohl mir jede Faser meines Körpers wehtat, versuchte auch ich ein Lächeln.
„Hey," flüsterte ich und setzte mich ein wenig auf.

Doch das war keine gute Idee.

Sofort merkte ich, wie mein Magen zu gurgeln anfing und im nächsten Moment krümmte ich mich zusammen und übergab mich über die Bettkante.
Glücklicherweise stand direkt an der Stelle ein Eimer.
Schwer atmend lehnte ich mich wieder zurück und schloss die Augen.
„Das war wohl keine gute Idee," sagte Saige und lachte.
Ich konnte nur nicken.

Dann wurde sie wieder ernst.
„Meine Güte, so etwas habe ich echt noch nie erlebt. Ich behandele zwar viele Neuankömmlinge am Anfang ihrer Ausbildung, doch so schlimm war es noch nie."
„Warum ist es denn bei mir anders?," fragte ich verwundert.
„Naja, ich glaube, du wurdest einfach überstrapaziert. Ryu hat dich ziemlich hart rangenommen."

Sofort wurde mir wieder schlecht. Doch diesmal aus Hass. Ich hatte so eine Wut auf diesen Kerl, dass ich ihm hier und jetzt eine reinhauen konnte, selbst in meiner momentanen Verfassung. Wieso hatte er das bloß getan?

„Wieso hat er das gemacht?," sprach ich meine Gedanken laut aus.
Saige schüttelte bloß den Kopf.
„Er ist einfach so."
„Er quält andere Leute, bis sie womöglich tot umfallen?," hakte ich mich hochgezogener Augenbraue nach,
„Nein. So ist er nun auch wieder nicht. Aber bei dir ging er eindeutig zu weit. Das hängt vielleicht auch zusammen mit..." Plötzlich verstummte sie.
„Mit?," hakte ich nach.
„Ach, vergiss es. Ich lass dich jetzt lieber mal alleine."
Sie wollte aufstehen, doch ich hielt sie zurück.
„Saige, bitte," krächzte ich. „Niemand will mir je irgendetwas verraten. Sag mir, was los ist."
Traurig schüttelte sie den Kopf. „Das kann ich nicht. Und das sollte ich auch nicht. Frag jemand anderen."
Gerade wollte ich ihr erklären, dass genau das ja mein Problem war, doch sie stand auf und ging.
Ich blieb alleine und schon wieder mit Fragen im Kopf zurück.

Jai hatte mich für ein paar Tage von meiner Ausbildung freigestellt.
In dieser Zeit saß ich meistens auf meinem Bett und starrte auf die Decke.
Ich fragte mich immer wieder, was bloß mit mir los war.
Warum war ich so viel schlechter als die Anderen? Warum konnte ich meine Kraft nicht kontrollieren? Warum reagierte bei meiner Fähigkeit jeder über?
Warum, warum, warum...

Seufzend lehnte ich meinen Kopf an die kühle Wand und schloss die Augen.
Wenn das so weiter ging, würde ich so wie Reign ein ganzes Jahr in der Ausbildung sein. Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Reign!
Vielleicht hatte sie am Anfang ja die gleichen Probleme wie ich gehabt. Ich würde sie dazu fragen.

Ich stand auf und lief zum Vorplatz des Gebäudes, auf dem auch das Ausbildungszelt stand.
Suchend ließ ich meine Augen über die Leute gleiten und entdeckte Reign schließlich bei einer Gruppe von Leuten.
Zielstrebig steuerte ich darauf zu, als plötzlich jemand vor mich trat.

Ryu. Na großartig.

„Quinn Roberts," sagte er und musterte mich.
„Was willst du?," fragte ich bissig.
„Ich dachte, du musst dich schonen," erwiderte er herausfordernd.
„Muss ich auch, und?"
„Dann solltest du wohl lieber nicht hier draußen rumlaufen."
„Keine Sorge, ich hole mir schon keinen Schnupfen," antwortete ich und schaute an ihm vorbei, wo die Hitze nur so flimmerte.
„Zu deiner Ausbildung," antwortete er bloß. „Ich werde dich nicht weiter trainieren." Überrascht sah ich ihn an. „Wie bitte? Wieso nicht?"
„Es...geht einfach nicht."

Wow. Das war wie immer eine großartige Antwort.

„Was soll das heißen, es geht nicht? Du musst mich trainieren, du bist doch dafür zuständig!"
„Nicht mehr. Zumindest nicht für dich."
„Und wer soll mich jetzt ausbilden?," fragte ich entsetzt.
„Keine Ahnung. Du wirst dich wohl selbst trainieren müssen."
„Sehr witzig," erwiderte ich, doch da drückte er sich schon an mir vorbei und ging weiter. Wütend sah ich ihm hinterher.
Ich wollte wirklich weiter trainiert werden. Zwar nicht unbedingt von ihm, aber sonst gab es ja niemanden!
Ich würde mit jemandem sprechen müssen. Und die einzige Person, die da zur Verfügung stand war...Jai.

Mit einem Seufzen warf ich einen Blick auf die Stelle, wo Reign eben noch gestanden hatte, jetzt aber verschwunden war. Also drehte ich mich wieder um und ging zurück zum Gebäude. Von dort aus lief ich die Treppe hoch zur Zentrale.

Als ich den Raum betrat, sahen wie schon letztes Mal alle zu mir.
Ich schaute umher, bis ich Jai an einem der Schreibtische entdeckte und ging auf ihn zu. Doch er reagierte nicht, selbst als ich neben ihm stand.
„Hey," sagte ich schließlich und er sah hoch. Als er mich erblickte, guckte er misstrauisch. „Was willst du denn hier?"
„Ich will fragen, was das mit Ryu und meiner Ausbildung soll."
„Kannst du das vielleicht etwas weiter ausführen?"
„Er weigert sich, mich weiter zu trainieren. Er meint, er sei nicht mehr dafür zuständig. Stimmt das?"
Jetzt sah er mich nachdenklich an.
„Nein, das stimmt nicht."
„Und?," hakte ich nach, als nichts mehr kam. „Wer soll mich jetzt ausbilden?"
„Keine Ahnung. Ich werde mir was einfallen lassen."
„Wie, das war's?," fragte ich entrüstet.
„Ja, das war's," gab er in einem genervten Tonfall zurück.
Plötzlich stand er auf und baute sich in seiner ganzen Größe vor mir auf.
„Hör zu, nicht alles dreht sich hier um dich, verstanden?"

Wie bitte? Ich glaubte, ich hörte nicht recht! Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein?

„Sag mal, was ist eigentlich los mit euch allen?," platzte es auf einmal aus mir raus.
„Jeder weigert sich hier, mit mir zu reden, niemand will mir Antworten auf meine Fragen geben und wenn meine Fähigkeit ins Spiel kommt, sind alle fast am Durchdrehen! Ich hab's satt, herumgeschubst zu werden. Und ich erwarte, dass mich jemand trainiert. Und zwar ab sofort!"

Auf einmal war es ganz still und aus Richtung Eingang ertönte ein Klatschen.
Harry stand dort und klatschte in die Hände. „Applaus," sagte er grinsend und ich lächelte triumphierend zurück.
Dann drehte ich mich wieder zu Jai um.
Er schürzte die Lippen und nickte mir zu. „Okay."
„Okay?," fragte ich ungläubig.
„Ja. Ich werde was tun."
„Und was? Ich will nicht Jahre warten."
„Ich habe gesagt, ich werde was tun, okay?," blaffte er mich an.

Wie immer nicht freundlich, aber immerhin hatte ich schon mal etwas erreicht.

Trotzdem ich blieb einfach stehen und sah ihn weiter an.
Irgendwann seufzte er und verdrehte die Augen.
„Okay, weißt du was? Ich werde dich einfach trainieren."
Jetzt fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. „Bitte?"
„Du hast schon richtig gehört. Wir treffen uns morgen um sieben Uhr vor dem Tor."
„So früh? Aber...," versuchte ich eine Entgegnung.
„Sieben Uhr. Tor," unterbrach er mich in seinem gewohnten Ton und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

Doch diesmal lief ich nicht wütend davon oder verdrehte genervt die Augen.

Ich grinste über beide Wangen, als ich zum Eingang lief, mich bei Harry einhakte und wir gemeinsam die Treppe runter gingen.
„Ich würde sagen, dass war erfolgreich," sagte er lächelnd zu mir.

TelepathyWhere stories live. Discover now