Kapitel 46

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You cannot free someone who is caged in their own self.
- Anjum Choudhary -

Grelles Licht blendete mich, als wir den dunklen Keller hinter uns ließen.

„Okay, weiter. Wir dürfen nicht anhalten! Kyle, wo sollen wir lang?," rief Ryu ins Headset.
„Lauft geradeaus, immer am Wasser entlang. In einem Kilometer kommt ein Stück Wald, in dem seid ihr geschützt."
Rennend schaute ich nach links und sah immer wieder Wasser zwischen den Bäumen aufblitzen.
Glücklicherweise liefen wir hinter den großen Gebäuden entlang, sodass uns niemand sehen konnte.

Nach ungefähr zehn Minuten erreichten wir das kleine Waldstück, von dem Kyle geredet hatte und ließen die Körper der Männer hier mit einem lauten Plumps fallen.
„Was sollen wir mit ihnen machen?," fragte ich außer Atem. „Die meisten sind nicht mal tot."
„Dann müssen wir das ändern," sagte Ryu ohne das Gesicht zu verziehen und schoss jedem der sieben Männer in den Kopf. Dann steckte er seine Waffe seelenruhig wieder zurück.

Geschockt starrte ich ihn an.

„Was? Was hätten wir sonst machen sollen?," rief er und hob die Arme.
„Oh ich weiß nicht. Ihnen die Erinnerung nehmen zum Beispiel? Immerhin haben wir jemanden, der das ganz gut drauf hat," schrie ich und zeigte auf Jai.
„Quinn, ich meine mich zu erinnern, dass auch du ausgebildet wurdest und gelernt hast, deine Kräfte niemals in der Öffentlichkeit und nur wenn es keine andere Möglichkeit gibt, zu verwenden, oder nicht?," erwiderte Ryu und machte einen Schritt auf mich zu.
„Es gab keine andere Möglichkeit. Sie oder irgendeinen Menschen zu töten, war nie eine Option!," sagte ich und ging ebenfalls auf ihn zu. Dann hob ich verzweifelt die Arme über den Kopf und drehte mich von ihm weg. „Wir sind hierher gekommen, um ein paar Instrumente aus dem Labor zu stehlen und nicht, um zu morden. So sind wir doch nicht!"
„Sag das den drei Männern, die bereits tot waren. Und Sophie auch. Und was glaubst du, wozu wir die Waffen haben? Als Wasserpistolen? So wie du heute gekämpft hast, hattest du es nicht unbedingt darauf abgesehen, sie leben zu lassen."
„Ich habe so gekämpft, um uns zu beschützen!," rief ich jetzt lauter und ging wieder auf ihn zu. „Und du weißt doch überhaupt nichts, du hast meine Ausbildung schließlich hingeschmissen!"

Wütend schaute ich ihm, nur noch wenige Zentimeter entfernt, in die dunklen Augen, die mich blitzend ansahen.
Sein heißer Atem schlug mir ins Gesicht und mein Herz klopfte vor Wut wild in meiner Brust.

Ich versuchte erst überhaupt nicht, nicht seine Gedanken zu lesen.

Fang an zu graben, dachte er und starrte zurück. Dann wandte er sich ab und begann, mit Stöcken und den Händen Löcher zu graben.
„Warum werfen wir sie nicht einfach ins Meer?," kam es von Violet und ich verdrehte die Augen. Dann suchte ich mir eine Stelle unter einer Buche und fing ebenfalls zu graben an.
„Die Wellen würden die Leichen wieder an den Strand spülen," antwortete Leo.

Nach und nach gruben wir zusammen tiefe Gräber, was eine Ewigkeit dauerte, und legten die Leichen hinein, bevor wir die Löcher wieder mit Erde füllten.
„Kommt her. Wir müssen überlegen, was wir jetzt tun," sagte Jai und rief uns zu sich in einen Kreis.
„Lass mich raten, wir gehen nicht nach Hause," kam es von Teala.
Jai nickte ein wenig zerknirscht. „Wir können nicht nach Hause, bis wir unsere Mission erfüllt haben. Unsere Leute vertrauen auf uns! Und wenn wir hier eine Woche bleiben. Außerdem ist es leichter hier zu bleiben, als später wiederzukommen und nochmal die Grenze überqueren zu müssen."
„Wie wäre es, wenn wir einfach nie wieder kommen?," fragte Harry da. Er zitterte noch immer und seine Unterlippe bebte.

Ich wusste, wie er sich fühlte.
Als ich Jai vorgeschlagen hatte, nach Houston zu gehen, hatte ich mir etwas ganz anderes vorgestellt.
Doch wahrscheinlich hatte ich einfach nur zu optimistisch gedacht.

„Okay, was schlägst du vor?," fragte ich an Jai gewandt und bemühte mich, nicht schwach und ängstlich zu klingen.
Jeder wusste, dass das hier meine Idee gewesen war.

„Ich sage, wir teilen uns in Zweiergruppen auf," sagte Ryu. „Harry und Leo, Lance und ich, Teala und Violet, Jai und Quinn."
Teala stöhnte verärgert, was ich ihr nicht übel nahm und Jai und ich sahen uns kurz an.

„Jede Gruppe übernimmt einen bestimmten Teil in der Innenstadt. Am besten bewegen wir uns sonnenförmig auf das Scientium zu. Guckt nach möglichen Eingängen, die wir übersehen haben, Schwachstellen in der Fassade, Möglichkeiten im Untergrund, irgendwas. Teilt es uns über das Armband mit, falls ihr etwas findet."

Nacheinander teilte uns Ryu einen Weg zu, bis er zu Jai und mir kam.

„Jai, Quinn, ihr geht hier lang," sagte Ryu und schickte uns die Koordinaten auf unser Armband.
Kurz sahen wir uns den Weg an und überprüften nochmal unsere Waffen.
Bevor wir los liefen, hielt mich Ryu am Arm fest. „Wenn du in Gefahr bist, Quinn, zögere nicht und benutze deine Waffen. Du hast sie nicht umsonst."
Ich nickte widerwillig, dann gingen wir los.

Wir liefen durch eine Wohngegend, hübsche kleine Häuser mit schmucken Vorgärten, die aneinander gereiht waren. Genau in so einer Gegend hatte ich mal gelebt. Nicht nur gelebt, es war mein Zuhause gewesen.
Ich bemerkte ein Ziehen in der Brust, doch ich war mir sicher, dass es nicht vom Laufen kam.

Schnaufend machte Jai dicht an einer Hauswand Halt und sah auf sein Handgelenk.
„Noch zweihundert Meter, dann müssen wir links abbiegen. Kannst du noch?," fragte er mich zweifelnd.
„Die Frage ist doch eher, ob du noch kannst," sagte ich, überhaupt nicht außer Atem.
„Auch wieder wahr," gab er zu. „Dann mal weiter."

So flink wie Gazellen liefen wir durch die menschenlosen Straßen, während hinter uns die Sonne langsam unterging.
Nach zwei Blöcken bogen wir ab und rannten die Straße weiter. Sie machte größeren Häusern Platz, offensichtlich eine reichere Gegend.

Eine Gegend, die mir merkwürdigerweise bekannt vorkam.

Ich rannte noch ein bisschen weiter, bis ich auf einmal abrupt stehen blieb.
Jai drehte sich nach mir um und hielt ebenfalls an, als er bemerkte, dass ich ihm nicht folgte.
„Hey," rief er leise. „Was machst du denn? Wir müssen weiter."
Doch ich hörte gar nicht auf ihn. Mein Blick blieb an der kleinen Straße links von uns hängen, eingerahmt von alten Eichenbäumen.
Mit schnellen Schritten bog ich in sie ein und lief weiter, meinen Blick an die Häuser gehaftet.
Nach ein paar hundert Metern blieb ich vor Haus stehen.

Meinem.

Es sah anders aus, als ich es in Erinnerung hatte.
Die Blumen vor dem Eingang, die meine Mutter für mich gepflanzt hatte, als ich noch ein kleines Mädchen war und bunte Farben über alles geliebt hatte, waren verwelkt und wirkten trostlos.
Der Rasen war braun und mit Unkraut übersät und von der einst weißen Fassade blätterte die Farbe ab.

Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie meine Eltern litten. Ich hatte sie ja erlebt, als Leo verschwand, doch nun, da sie beide Kinder verloren hatten, wie mussten sie sich da bloß fühlen?

Fast augenblicklich bekam ich eine Antwort auf diese Frage. Ich ging ein wenig um das Haus herum, bis ich vor den großen Fenstern zum Wohnzimmer stehen blieb.

Ich wusste nicht was ich denken sollte, bei dem, was ich dort sah.

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