Kapitel 47

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Betrayal is the only truth that sticks.
- Arthur Miller -

Das erste, was meinen Blick traf, waren wohl die bunten Blumen, die auf dem Esstisch standen. Die Blumen aus dem Garten. Doch das war es nicht, was mich sprachlos machte.

Nein, das waren meine Eltern, die lachend und strahlend vor einem regelrechten Festmahl von Frühstück saßen und mit Champagner anstießen.
Sogar durch die dicken Scheiben hindurch konnte ich ihr Lachen hören.

Meine Mutter hatte ein hellblaues Kleid an und mein Vater sein bestes Hemd.
Sie waren längst nicht mehr so dünn wie noch vor einem halben Jahr, ihre Haare nicht mehr ergraut und ihre Augenringe unauffindbar.
Der Weihnachtsbaum in der Zimmerecke erregte meine Aufmerksamkeit und Wut bildete sich in meinem Bauch. Seit wir klein waren, hatten Leo und ich uns immer einen echten, richtigen Weihnachtsbaum gewünscht. So einen, wo man Kerzen und bunte Kugeln dranhängen konnte und der nach Nadeln und Walderde roch.
Doch da diese extra gezüchtet wurden mussten, waren sie sehr teuer und sie hatten sich stets geweigert. Was also hatte jetzt ihre Meinung bitte geändert? Gab es eine Gehaltserhöhung, von der ich nichts wusste? Aber das würde unser Verschwinden doch auch nicht wieder gut machen...

Zuerst versuchte ich es mit Ausreden, warum sie sich so verhielten, doch was bildete ich mir ein? Keine Eltern sollten so feiern, wenn ihre eigenen Kinder seit Monaten verschwunden waren. Bedeuteten wir ihnen wirklich so wenig?

Ich wurde von Jai aus meinen Gedanken gerissen.
„Quinn, komm schnell. Ich habe etwas gefunden!," sagte er und berührte mich an der Schulter.
Ich wischte schnell die Träne, die sich in meinem Augenwinkel verfangen hatte, weg und folgte ihm.
Er lief vorbei an unserem Haus, dem ich keinen Blick mehr schenkte und bog in das kleine Waldstück ein, in dem Hazel, Val und ich als Kinder immer gespielt hatten.
Hinter einem großen Ahornbaum blieb er stehen.

„Schalte dein Armband ein," befahl er mir und ich tat es.
„Ja und?," fragte ich.
„Genau hier befindet sich ein Tunnel, ein Tunnel der in die Stadt führt. Und wenn ich Recht habe, endet er im Scientium. Ein anderer als der vom Regierungsgebäude aus."
Misstrauisch sah ich ihn an. „Bist du dir sicher? Was ist, wenn er überschwemmt oder voller Ratten ist? Wenn wir da nicht mehr rauskommen?"
„Keine Sorge, das würden wir auf der Karte sehen."
„Sicher? Ich meine, überleg doch mal, wo der überhaupt herkommt. Das ist ganz bestimmt kein offizieller Kanal."
Er zögerte einen Moment, ließ sich aber nicht umstimmen. „Wir müssen es aber wenigstens versuchen. Du hast doch gesehen, wie unmöglich es für uns ist, dort von außen reinzukommen. Also probieren wir es jetzt von unten."
„Ich halte das für keine gute Idee," wiederholte ich. „Womöglich gibt es dort unten wilde Tiere oder Obdachlose, die uns überfallen."
Er verdrehte die Augen. „Meine Güte, musst du immer so viel Angst haben?"
„Bitte?" Überrascht und auch ein wenig verletzt sah ich ihn an.
„Du hast mich schon gehört. Immer bist du besorgt und verschreckt. Das kann ganz schön nerven."
„Und mich nervt es, dass du immer alles alleine entscheiden willst. Ich habe auch ein paar gute Ideen," gab ich zurück.
„Wirklich? So wie die Idee, nach Houston zurück zu gehen?," fragte er.

Jetzt sah ich ihn einfach nur noch schockiert an und sagte nichts.
Das konnte er nicht ernst meinen.

Doch ich hatte keine Chance mehr, ihm etwas anderes einzureden, da er in dem Moment an der Stelle, wo er den Eingang vermutete, bereits Laub und Moos zur Seite schob und schließlich auf Metall traf.
Ich kniete mich zu ihm runter und half ihm, die Tür aufzumachen.
Nach einigen Versuchen klappte es schließlich und gemeinsam stemmten wir die schwere Platte zur Seite und schauten nach unten.

„Schalte deine Taschenlampe ein" sagte Jai und zeigte mir, wie es ging.
Obwohl es ein extrem starkes Licht war, reichte es nicht mal ansatzweise bis ganz nach unten.
Ich sah ihn schwer schlucken, dann tippte er etwas auf dem Armband ein.

„Leute, alles gut?," hörte ich Kyles Stimme da auf einmal in meinem Ohr.
„Alles super," antwortete Jai. „Wir sitzen gerade vor einem Tunneleingang, der mit ziemlicher Sicherheit zum Scientium führt. Kannst du das mal bitte überprüfen?"
„Klar, einen Moment."

„Dir ist nicht eingefallen, vorher mal Kyle zu fragen?," sagte ich mit hochgezogener Augenbraue und in einem bissigen Ton.
Jai zuckte mit den Schultern. „Das mache ich doch jetzt. Und außerdem hättest du ihn ja auch anrufen können. Aber nein, du bist ja auf einmal vor mir weggerannt."
„Ich bin nicht vor dir weggerannt," sagte ich.
„Und was dann? Vor deinen Pflichten und Aufgaben?"
„Nein," sagte ich, stark betont. „Ich bin überhaupt nicht weggerannt. Ich bin..."

„Also," unterbrach mich Kyle. „Ich störe euren Ehestreit ja nur ungern, aber der Tunnel sieht gut aus. Scheint zum Scientium zu führen, wie du dachtest. Laut meiner Information ist alles im Tunnel frei. Also legt los. Ich berichte den anderen, wo ihr seid."
„Super, danke Kyle," antwortete Jai und legte auf. „Dann mal los."
Ich nickte und sah noch einmal in den tiefen Schacht.
„Dann mal los."

Jai setzte zuerst einen Fuß auf die schmalen Sprossen, die hinabführten.
„Keine Sorge, wenn du fällst, falle ich mit dir," sagte er und ich verdrehte die Augen, bevor ich ihm in die Dunkelheit folgte.
Ich schloss die Luke hinter mir und war nun wirklich in Pechschwärze eingehüllt.

Sofort verstärkten wir das Licht unserer Taschenlampen an einer Taste und der helle Schein erhellte die grauen Betonwände um uns herum.
Je tiefer es ging, desto schmaler wurde es auch. Was bei meiner Platzangst wirklich wunderbar war.
Ich konnte nicht sagen, wie lange wir nur hinabstiegen. Doch als irgendwann meine Hände ganz aufgerieben waren und meine Arme schwach wurden, wusste ich, dass es eine ganze Weile war.

Nach gefühlten Stunden rief Jai plötzlich: „Ich kann Boden sehen!"
Angetrieben davon wurden wir schneller und sprangen schließlich auf festen Beton.
Glücklich strahlten wir uns an, bis uns, vor allem mir, klar wurde, dass wir uns ja eigentlich stritten.

Ich wischte mir die Hände an der Hose ab und leuchtete in den Gang vor uns.
Genau wie eben reichte das Licht nicht bis zum Ende, doch immerhin ging es jetzt geradeaus.
Schweigend liefen wir nebeneinander her.
Wir wussten wohl beide nicht, was wir sagen sollten.

„Also, warum bist du vorhin wirklich weggerannt?," durchbrach Jai plötzlich die Stille.
„Das geht dich gar nichts an."
„Vorhin warst du noch ganz wild darauf, es mir zu erzählen."
„Nein, du hast es aus mir raus gequetscht. Weil du dich immer in alles einmi..."
„Bitte, Quinn!," unterbrach er mich laut und blieb stehen. „Hör auf, dich immer so gegen mich zu wehren. Manchmal habe ich das Gefühl, du denkst, dass die ganze Welt hinter dir her ist."
Ich schaute mich um und machte eine Ausholbewegung. „Ist sie das nicht? Sonst wären wir wohl nicht hier."
Er seufzte leise. „Aber ich bin es nicht," sagte er und trat einen Schritt näher, bevor er meine Hände in seine nahm. „Ich will, dass du mir vertraust. Das kann ich allerdings nicht, wenn du jeden meiner Versuche, vernünftig mit dir zu reden, abblockst. Du musst lernen, mit mir zusammen zu arbeiten. So schnell wirst du mich nämlich nicht mehr los."

Jetzt war er auf einmal so nahe, dass ich ganz genau die goldenen Sprenkel in seinen Augen sehen konnte.
Er war mir so nah wie nie zuvor und es war so still um uns herum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

Bis ein lauter Knall uns jäh auseinander riss.

TelepathyWhere stories live. Discover now