Kapitel 22

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A flower does not think of competing to the flower next to it. It just blooms.
- Unknown -

Ich hatte gemischte Gefühle wegen dem, was gerade passiert war.

Einerseits war ich Uriel ein kleines bisschen dankbar dafür, dass er sich für mich eingesetzt hatte, andererseits war ich sauer, dass es dazu gekommen war.

Es sollte mich nicht kümmern, was Jamie dachte oder sagte und es sollte mich erst Recht nicht kümmern, ob die anderen besser waren als ich. Und schon gar nicht sollte ich Neid empfinden.

Wenn ich genauso gut wie Olivia sein wollte, dann gab es nur einen Weg: Ich musste üben.

Ich warf also Messer, bis meine Hände verkrampften, bevor ich endlich einmal traf. Zwar nicht die in die Zielscheibe, sondern nur in das Bein der Figur, aber immerhin etwas. Da rief Phoenix auch schon, dass für heute Schluss sei und wir packten zusammen.
Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit rasend schnell umgegangen war und hatte immer noch die Motivation, endlich die Zielscheibe zu treffen.

Als wir uns alle in der Mitte trafen, erklärte uns Phoenix, dass wir direkt morgen zum Jagen rausgehen würden.
„Was? Warum denn schon morgen? Wir sind doch alle noch gar nicht bereit zum Jagen," sagte ich.
„Du vielleicht nicht, wir anderen schon," erwiderte Jamie und ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Hatte er nicht eben gelernt, was passierte, wenn er sich so verhielt? Doch Uriel war nicht hier, was meine Wut über das eben geschehene noch verstärkte. Ich wollte, dass Jamie wusste, dass ich mich selbst verteidigen und für mich selbst und meine Freunde einstehen konnte.

„Quinn hat schon Recht damit, dass ihr noch nicht bereit seid, aber wir haben eine Nahrungsmittelknappheit im Moment und es wird von uns erwartet, mit Essen zurückzukommen."

Jamie sah Phoenix nun mit dem gleichen Blick wie ich ihn an, doch diesen interessierte das nicht im geringsten.

„Morgen, fünf Uhr, am Tor. Seid pünktlich," sagte er und ließ uns alleine.

Gemeinsam mit Reign und Olivia ging ich die Düne hoch und lief zu den Waschsälen.
Mittlerweile hatte ich mich an den Schimmel und den Kalk an der Wand gewöhnt und auch an das leicht bräunliche Wasser, das aus der Brause kam und einen gewissen modrigen Geruch auf der Haut hinterließ. Außerdem war ich fast jeden Tag so geschwitzt und erschöpft, dass mich selbst das dreckigste Wasser erfrischte und säuberte.

Frisch geduscht und angezogen verließen wir die Dusche und zogen uns an.
Als die anderen zum Essen gehen wollten, entschuldigte ich mich und sagte ihnen, dass ich gleich nachkommen würde.

Zuerst musste ich noch etwas erledigen.

Ich wusste nicht genau, wo sich Uriel sonst immer aufhielt, doch ich konnte mir einen Ort vorstellen.
Also verließ ich die Schlafsäle und das Gebäude und ging zum Trainingsplatz.

Oben auf der Düne blieb ich stehen und sah nach unten.
Und dort saß er. Im Schneidersitz auf dem Boden, ein Messer in der Hand, was er schärfte.
Der Klang von Metall auf Metall hallte bis zu mir nach oben, doch ich hatte keine Angst.
Vorsichtig rutschte ich auf dem Sand nach unten und fing mich unten wieder.

Uriels Blick schnellte nach oben und umfasste das Messer fester, entspannte sich aber sofort wieder und seufzte, als er mich sah.
„Entschuldige," sagte ich. „Ich wollte dich nicht stören, aber ich würde gerne kurz mit dir reden."
Bevor ich weiter sprechen konnte, stand Uriel auf und ging zum Waffenzelt.
Schnell lief ich ihm hinterher.
„Wenn es jetzt gerade nicht passt, können wir auch morgen reden, aber mich lässt das von vorhin nicht los."

Er antwortete noch immer nicht, während er die Zeltplane zur Seite schlug und dann das Messer zurück ihn eine Kiste legte.

Ich folgte ihm nach drinnen.

„Ich danke dir, dass du mir vorhin geholfen hast, aber eigentlich... eigentlich wäre es mir lieber gewesen, du hättest es nicht getan."
Plötzlich wurde es ganz still im Zelt und Uriel hörte auf, sich zu bewegen.
Jetzt sah er tatsächlich aus wie eine Statue.

„Ich hab das nicht nur für dich gemacht, weißt du?"

Beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen.
Sie war überraschend warm und weich und er sprach langsam und geduldig.

Ich wartete einen Moment, um zu sehen, ob er noch etwas sagen würde, was er nicht tat.

„Was meinst du damit?," fragte ich schließlich.
Jetzt drehte er sich um, sein Gesichtsausdruck blieb gleich.
„Ich kenne Typen wie Jamie." Er sagte seinen Namen mit Verachtung in der Stimme. „Die gab es früher schon, jetzt auch und es wird sie auch in Zukunft noch geben. Und der Grund dafür ist, dass die Leute einfach hinnehmen, was diese Menschen sagen oder tun. Sie schütteln es ab oder versuchen es zumindest, aus Angst, sich zu wehren. Und so etwas tue ich einfach nicht. Ich kann nicht einfach zusehen, wie andere, nicht nur du, von ihnen schlecht behandelt werden."

Das hatte ich nicht erwartet.

Ich tat einen Schritt auf ihn zu, trotzdem darauf bedacht, genug Abstand zu halten.
„Das geht mir genauso. Ich kann auch nicht einfach zusehen und akzeptieren, aber ich kann und will auf mich selbst aufpassen. Dazu brauche ich keine Hilfe. Es hilft mir nicht, wenn Jamie nur Angst vor dir hat. Falls wir alleine sind, hätte das eher negative Folgen. Er würde mich nicht ernst nehmen."
„Dann nutze das!," sagte Uriel nun und ging mir entgegen. „Die beste Eigenschaft eines Feindes, die du dir zu Nutzen machen kannst, ist Überheblichkeit. Wenn er denkt, dass er stärker ist als du, macht ihn das unvorsichtig und dann ist das deine Chance, ihn zu schlagen. Vergiss das nie."

Ich nickte. Es machte schon irgendwie Sinn.

„Aber wenn er wirklich stärker ist als ich?"
„Dann musst du wohl trainieren, bis du stärker bist."
Jetzt trat er genau vor mich und legte seine Hände auf meine Schultern.

„Du bist wirklich gut, Quinn. Denk nicht so schlecht von dir selbst. Du bist mutiger und geschickter als die meisten in diesem Camp und du kannst stolz auf dich sein. Und ich weiß auch, dass ich nicht der Einzige bin, der so denkt, auch wenn das manchmal so scheint."

Ich lächelte dankbar. Es war merkwürdig, diese Worte aus seinem Mund zu hören und irgendwie fühlte es sich so an, als wären sie nur für mich allein bestimmt.

Ich nickte wieder. „Danke."
Er klopfte mir auf die Schulter. „Nicht dafür. Und jetzt geh wieder rein, sonst verpasst du noch den Rest vom Abendessen."
Fluchend verabschiedete ich mich und rannte dann zurück zum Essenssaal.

Als ich dort ankam, saßen Olivia, Reign, Saige, Harry und Leo zum Glück immer noch an unserem Stammtisch und unterhielten sich angeregt.

„Hey, was gibt's?," fragte ich, als ich mich setzte.
„Olivia erzählt uns gerade von eurer super Trainingsstunde heute mit Phoenix," erzählte Saige strahlend.

Verkniffen sah mich Olivia an, doch ich schüttelte nur ermunternd den Kopf.

„Ja, du warst heute wirklich super," sagte ich und lächelte sie an. „Morgen kannst du uns allen zeigen, was du drauf hast."
„Naja ich weiß nicht so recht, ein Tier zu töten ist nochmal was anderes als eine Holzfigur," sagte Olivia.
„Ach quatsch, du schaffst das schon," ermutigte sie Harry.
„Was meint ihr, wo diese Tiere leben?," fragte Reign.
„Keine Ahnung, aber wenn es noch mehr von diesen Oasen gibt, werde ich verrückt," sagte ich.
„Also dass es die Tiere gibt, ist auf jeden Fall sicher," warf Leo ein.
„Hast du etwa schon mal welche gesehen?," fragte Harry ungläubig.
Leo schüttelte den Kopf. „Persönlich nicht, nein. Aber ich hab Geschichten gehört. Angeblich sind hier schon Leute getötet worden durch die Mutationen. Sie werden als riesige, entstellte, bestialische Kreaturen beschrieben, die alles töten, was ihnen über den Weg läuft."

Bei dieser Beschreibung lief mir wieder ein Schauer über den Rücken, so wie bei Phoenix' Warnung über die Mutationen.

„Und wie stellt sich Phoenix bitte vor, wie wir diese Viecher erlegen sollen?," fragte Reign.

Wir anderen schüttelten nur den Kopf. Wir hatten keine Antwort darauf.

TelepathyWhere stories live. Discover now