Kapitel 11

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Unaware about my surrounding, unconscious I live, for I am in oblivion.
- Suman Pokhrel -

Nachdem sie so weit entfernt war, dass sie uns nicht mehr hören konnte, schüttelte Harry den Kopf und Olivia sagte leise: „Bist du völlig verrückt? Mit Teala ist nicht zu spaßen."
„Ach, die soll sich mal entspannen" murmelte ich. „Irgendwie sind hier alle ziemlich merkwürdig."
„Merkwürdig?," sagten Olivia und Harry gleichzeitig und sahen mich dabei mit unschuldigen Blicken an, sodass ich lachen musste.
Nach dem Essen standen alle auf und gaben ihr Geschirr an einem Tisch ab, an dem fünf Jugendliche standen.
„Tischdienst," erklärte mir Olivia. „Jeder bekommt eine Woche zugeteilt. An der Tür hängt Sonntagabends immer ein Zettel aus."

Ich kam mir vor, als wäre ich im Zeltlager der Engagierten Jugendlichen Houstons gelandet, das jeden Sommer veranstaltet wurde, nur noch schlimmer. Meine Mutter hatte immer versucht, mich zu überreden, dem EJH beizutreten, doch ich hatte mich stets strikt geweigert. Ich wusste, wenn ich tagein, tagaus nur Knoten band, komisches Essen aus Wurzelgemüse aß und unter freiem Himmel schlief, wo ich von Mücken nur so leer gesaugt wurde, würde ich irgendwann verrückt werden.
Im Gegensatz zu mir gab es eine Person, die völlig besessen vom EJH war: Val.
Wenn er nicht gerade Kurse an der Gentis University, an der er später mal studieren wollte, als Gasthörer besuchte, verbrachte er seine halbe Freizeit im EJH Camp. In den wenigen Momenten, in denen er mal mit Jade redete, versuchte er sie ständig zu überzeugen, dem EJH beizutreten und „wahre Entspannung" zu erfahren. Hazel und ich verdrehten in diesen Momenten immer die Augen.

Ich beeilte mich, zu Olivia und Harry aufzuschließen, die schon vorgegangen waren.
Wir durchquerten das Fabrikgebäude und betraten den Schlafsaal, in dem schon einige Leute lagen.
Ich sah, dass manche eine Taschenlampe an hatten und in einem Buch lasen. Ein normales Buch, kein Lexikon oder Gesetzbuch.
„Ihr habt hier Bücher?," flüsterte ich Olivia zu.
Eifrig nickte sie. „Ja, ich besitze auch ein paar. Willst du was lesen?
Was gab es da noch zu überlegen? Auch ich nickte wild und sie führte mich zu ihrem Bett, dass an der Wand stand. Das Bett daneben sah unbenutzt aus.
Sie folgte meinen Blick und sagte: „Wenn du möchtest, kannst du darauf schlafen."

Und das mochte ich. Im Moment wollte ich eigentlich nichts lieber als schlafen und beim Anblick der Matratze wurde ich sehnsüchtig, auch wenn sie platt und durchgelegen und nackt war.

Olivia holte unter ihrer Matratze drei Bücher hervor, die sie mir reichte. Sie waren alt und vergilbt und als mir ihr Geruch nach altem Papier und Kaffeeflecken in die Nase stieg, blitzte in meinem Kopf eine Erinnerung an die Bibliothek in Houston auf, in die ich so gerne als kleines Mädchen gegangen war. Tränen versuchten sich einen Weg nach draußen zu bahnen, doch ich blinzelte sie einfach weg.

Ich merkte, das Olivia mich aufmerksam beobachtete. „Wenn du willst, kannst du eins behalten," bot sie mir an. Einen Moment zögerte ich, zu verlockend war der Gedanke, doch dann schüttelte ich den Kopf.
„Nein, danke," lehnte ich ab und Olivia zuckte mit den Schultern und legte die Bücher neben mein Bett auf den Boden.
Wehmütig betrachtete ich sie. „Weißt du was, ich glaube, ich möchte doch nicht lesen. Tut mir leid," sagte ich schließlich und sie legte die Bücher wieder in das Versteck unter die Matratze.

Ich durfte mich unter keinen Umständen an diesen Ort gewöhnen oder ihn womöglich sogar noch gut finden. Das gute Essen vernebelte mir ja schon die Gedanken, Bücher würden mich wahrscheinlich komplett einnehmen.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob das ganze hier so etwas wie eine Art Gehirnwäsche war. Indem sie uns mit Dingen zu überzeugen versuchten, die wir begehrten. Nur wozu?

„Wie du meinst," sagte Olivia jetzt und sah mich dabei nicht an. Ich fragte mich, ob sie wusste, was in mir vorging. Aber wenn sie es wusste, ließ sie es sich nicht anmerken und fragte nicht nach. Das rechnete ich ihr hoch an. Ich war selbst neugierig und wollte noch so viel erfahren, vor allem von den Menschen hier im Lager. Warum sie hier waren, was ihre Geschichte war, was sie für Kräfte hatten. Doch ich wusste auch, wie man sich fühlte, wenn man ausgefragt wurde und man seine geheimsten Gedanken teilen musste.
Einer der Gründe, warum ich nicht die Gedanken anderer Menschen las.

Ich folgte Olivia in das Badezimmer, nachdem ich auf meinem Bett eine Zahnbürste und ein Handtuch fand.
„Klaut die denn niemand?," fragte ich sie und sie schüttelte den Kopf.
„Nein, niemand klaut hier etwas. Wir teilen alles."
Sowas ähnliches hatte Jai vorhin auch schon gesagt und das Lager wie einen sozialen Ort beschrieben. Doch ich wusste nicht, was besonders sozial daran sein sollte, Menschen einfach in ein Lager zu sperren und ihnen eine Zahnbürste auf eine durchgelegene Matratze zu legen.
Er hatte mir zwar die Gründe erklärt, doch ich verstand es immer noch nicht oder genauer gesagt wollte ich es nicht verstehen. Ich wusste ja, dass sie uns nicht wieder zurückschicken konnten, aber warum holten sie uns überhaupt hierher?

Wenn wir nichts vom Lager erfuhren, wussten wir doch gar nicht, dass es Gleichgesinnte gab und hatten nicht das Bedürfnis, es der ganzen Welt erzählen zu wollen. Klar gab es mit Sicherheit ein paar Idioten, die mit ihrer Kraft prahlen mussten, aber Leute, die wenigstens etwas Intelligenz besaßen, waren schlau genug, es nicht zu erzählen, um sich selbst zu schützen.

Gemeinsam mit Olivia stellte ich mich in eine Schlange an eines der drei Waschbecken, um darauf zu warten, mir die Zähne putzen zu können.
„Ist das etwa immer so?," fragte ich leicht schockiert. Das war ja wie am Kiosk. Außer, dass es hier keine Müsliriegel, sondern bloß Wasser aus einem rostigen Wasserhahn gab.
„Allerdings," antwortete Olivia und sah mich zerknirscht an. „Das ist hier halt kein Luxushotel."

Allerdings.

Nachdem wir uns die Zähne geputzt hatten, gingen wir zu unseren Betten zurück. Kurz fragte ich mich, ob es hier auch Schlafanzüge gab oder ob die Leute in Unterwäsche schliefen, da fand ich unter der Decke ein weites, blaues T-Shirt, das mir bis knapp oberhalb des Knies reichte. Kurz musste ich an Alec denken, der mir auch immer seine T- Shirts zum Schlafen geliehen hatte. Doch ich wischte den Gedanken beiseite.
Als ich es mir genauer ansah, entdeckte ich auf der Vorderseite das Logo der EJH. Ich schnaufte und verdrehte die Augen. Auch das noch.
Missmutig drehte ich das Shirt auf Links und warf es mir über. Dann zog ich darunter meine Sachen aus.
Olivia lachte leise bei meinem tollpatschigen Versuch, mich umzuziehen.
„Was?," fragte ich.
„Du kannst dich ruhig zeigen. Das interessiert hier niemanden."

Ich sah mich um. Tatsächlich zeigte hier niemand solche Scham wie ich und alle liefen in Unterwäsche und teilweise sogar nackt rum.
Ein ungewohnter Anblick, vor allem da niemand hier besonders sauber oder gepflegt war.

Obwohl es hier keine Unterschiede zwischen uns gab, fühlte ich mich unwohl bei dem Gedanken, mich vor allen auszuziehen.
„Schon gut. Du musst nicht. Aber auf die Dauer dürfte das dann doch etwas unpraktisch werden," sagte Olivia und lachte wieder.
Ich verdrehte erneut die Augen und steckte meine Arme durch die Armlöcher.
Dann legte ich mich vorsichtig auf das klapprige Bett, in der Sorge, es könnte unter mir zusammenbrechen.
Auch Olivia legte sich hin und löschte die Kerze, die auf dem Boden stand.
„Gute Nacht," sagte sie.
„Gute Nacht," antwortete ich.
„Ach und Quinn?"
„Ja?"
„Mach dir nicht so viele Gedanken."

Doch genau ihr letzter Satz brachte meine vielen Gedanken wieder nach oben.

Ich hörte, wie sie sich drehte und dann nach einiger Zeit ihre gleichmäßigen Atemzüge. Obwohl ich hundemüde war und am liebsten für hundert Jahre schlafen wollte, bekam ich kein Auge zu und wälzte mich unruhig hin und her. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, stieg vorsichtig aus dem Bett, um sie nicht zu wecken und nahm meine Schuhe in die Hand. Von einigen Kerzen, die noch an waren, geleitet, ging ich durch den Eingang in die Lagerhalle und von dort durch das große Tor.

TelepathyWhere stories live. Discover now