Kapitel 52

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Hold fast to dreams, for if dreams die
life is a broken-winged bird,
that cannot fly.
- Langston Hughes -

Weihnachten.
Das war in Houston für mich und Leo stets ein eher uninteressantes Fest gewesen.
Meine Freunde hatten immer von funkelnden, duftenden Bäumen gesprochen und von Bergen an Geschenken, während auf dem festlich gedeckten Esstisch sich Köstlichkeit an Köstlichkeit reihte.

Bei meiner Familie sah es so aus: meine Eltern waren beide bis spät abends arbeiten, als sie nach Hause kamen, drückten sie Leo und mir jeweils ein unverpacktes "Geschenk" in die Hand und stellten uns ein paar Fertignudeln in die Mikrowelle.
Während andere Kinder außerdem Spielzeug oder ein Fahrrad bekamen, gab es für mich jedes Jahr Schreibzeug für die Schule und neue, hässliche Schuhe.

Meine Eltern lehnten jegliche Art von Feiertagen ab und ich wusste nicht mal wieso.
Wir feierten nur unsere Geburtstage, deswegen waren diese immer die Höhepunkte des Jahres.

Gewesen.

Dieses Jahr und auch die Jahre darauf würde alles anders werden.
Hier gab es keine Schneeflocken aus Plastik, keine lieblosen Geschenke und keine Mikrowellenmahlzeit.
Genauer gesagt gab es überhaupt keine Geschenke oder irgendeine Art von Weihnachtsdekoration.
Es gab nur uns, gutes Essen und den heißen Sand um uns herum.
Was mir viel lieber war als die Alternative.

Und genau deswegen wachte ich am Weihnachtsmorgen auch mit einem großen Lächeln auf.
Mir tat immer noch alles weh von der Mission, aber das konnte mir nicht die Laune verderben.
"Was ist denn mit dir los?," fragten Olivia und Reign beide, als ich sie zur Abwechslung mal weckte.
"Es ist Weihnachten!," jauchzte ich auf und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind.
"Oh Gott," stöhnte Reign und drückte sich das Kissen aufs Gesicht.
Ich zog es ihr weg.
"Hey!," protestierte sie.
"Das hier ist mein erstes richtiges Weihnachten. Ich will, dass es schön wird."
Jetzt setzte sie sich auf und schaute mich prüfend an.
"Dein erstes richtiges Weihnachten?," fragte sie nach. "Wie habt ihr denn immer gefeiert?"
Ich zuckte die Schultern. "Gar nicht eigentlich."
"Mein Vater hat Harry und mir immer Schnee geschenkt," sagte Olivia da und strahlte.
"Schnee geschenkt? Echten?," fragte ich ungläubig.
"Er hat mir nie verraten wie er es gemacht hat. Aber es hat nur in unserem Vorgarten weiße, weiche Flocken geschneit und alle Kinder haben bei uns gespielt und Schneemänner gebaut. Das war schön," sagte sie und ihre Stimme wurde leiser.
Sie musste es besonders schwer an diesem Tag haben.
"Ich gehe mal nach Harry schauen," sagte sie und stand auf.

Ich sah ihr nach.
"Und was machen wir?," fragte Reign und stand ebenfalls auf.

Wir gingen zum Weihnachtsfestessen, das die besten Nahrungsmittel, die wir das ganze Jahr über sonst nicht bekamen, hatte.
Vogelfleisch, frisches Gemüse und sogar Nachtisch aus Eischnee und Beeren aus Houston. Es gab obendrein noch eine Art Punsch, mit echtem Alkohol, den Ryu nach unserem Wissen selbst gemacht hatte. Er leugnete die Gerüchte immer, doch wir wussten Bescheid.

Bevor wir den Saal betraten, zogen wir uns noch um.
Jeder von uns bekam zur Feier des Tages ein weißes Kleid beziehungsweise ein weißes Hemd. Die Kleidungsstücke hatten hier und da einige Flecken oder waren zerrissen, aber nachdem uns Mädchen jeweils noch eine Krone aus Wüstenrose aufgesetzt wurde, fühlte ich mich fast wie eine Figur in einem der Weihnachtsbücher, die ich als Kind immer gelesen hatte. Nur hatte ich es damals für unmöglich gehalten, dass Weihnachten tatsächlich so perfekt sein konnte.

Als wir die Halle betraten, wurde dieses Gefühl, was ich hatte, noch verstärkt.
Es war komplett still, Kerzen waren verteilt und das Essen stand auf den Tischen, seinen unwiderstehlichen Duft verbreitend und bereit, gegessen zu werden.
Ich musste zugeben, eine kleine Träne vor Glück verirrte sich in meinen Augenwinkel, doch ich wischte sie schnell weg.
Als wir Platz nahmen und uns die Hände reichten, während Odie kurz etwas sagte, bekam ich ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, das ich nicht kannte.
Ich glaube, dieses Gefühl nannte sich Besinnlichkeit. So stand es in den Büchern.
Das mussten die Menschen so toll an Weihnachten finden. Mit Menschen zusammen sein, die sie liebten und rundum zufrieden sein.

"Danke, dass ihr alle hier seid. Ich bin so stolz auf das, was wir alles dieses Jahr erreicht haben. Wir können uns glücklich schätzen, heute hier sein zu dürfen. Lasst uns aber auch an die Menschen denken, die heute nicht hier sein können."
Er nannte Sophies Namen unter vielen anderen und ich senkte den Kopf, als wir begannen, eine Schweigeminute abzuhalten. Ich dachte auch an die Köche, die jetzt unter der Erde lagen und an den Sicherheitsmann, der diesen Tag womöglich ganz alleine verbrachte.

Mir war bewusst, dass ab jetzt wahrscheinlich jedes Weihnachten so sein würde.
Mit Kerzen und tollem Essen, aber als Strafe eben auch mit schlechtem Gewissen.
Wir stießen mit Punsch an und begannen dann zu essen.
Es schmeckte so gut, dass ich die Augen schließen und lächeln musste.

"Wow, ich hätte nie gedacht, dass Weihnachten so toll sein kann," sagte ich.
"Wenn man mit den richtigen Leuten zusammen ist, schon," sagte Olivia und legte einen Arm um mich.
Die Menge aß, trank, lachte und feierte zusammen, bis irgendwann ein merkwürdiges Geräusch ertönte und Odie uns zum Schweigen brachte.
Alle verstummtem und lauschten dem Geräusch.
Es klang, als würde jemand kleine Kieselsteine auf das Dach des Gebäudes fallen lassen und Wasser dazu laufen lassen.
Mein Blick hellte sich auf, als ich realisierte, was es war.

„Regen!," rief ich und stand auf.
Jeder sah zu mir.
„Es regnet!," wiederholte ich nochmal und jetzt wachte die Menge auf, erhob sich von ihren Plätzen und lief nach draußen.
Kaum standen wir vor dem Tor, fingen wir alle an zu jauchzen und die Arme gen Himmel zu strecken, von dem das Wasser nur so strömte.
In kürzester Zeit waren wir nass, doch es war das beste Gefühl seit langem.
Endlich wurde mir der Schmutz und Schweiß von Monaten mit sauberem, frischem Wasser von Körper und Kleidung gewaschen und erfrischte meine Kehle.

Die Arme ausgestreckt, legte ich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, ließ mich einfach nur von dem warmen Regen berieseln.
Als ich wieder den Blick anhob, wischte ich mir das Wasser aus den Augen und sah zu meinen Freunden, die dieses Spektakel genauso genossen wie ich.
Mit Regentropfen in den Augen, vielleicht waren es auch Tränen, drehte sich Olivia zu mir um, die Haare durchnässt.
"Ist das zu glauben?," rief sie gegen das laute Prasseln an.
Ich sagte nichts, lächelte nur.
Es regnete nie in Houston und nun auch noch mitten in der Wüste? Das schien unmöglich zu sein.
Doch Olivia unterbrach meine Gedanken, indem sie mir um den Hals fiel.
"Hoppla," rief ich aus, doch auch ich legte die Arme um sie.
„Ich hab dich lieb," wisperte sie sachte.
Als Antwort strich ich über ihre blonden Haare.
Wir lösten uns schließlich und auch Harry trat neben uns und umarmte mich.
Dann nahm Olivia seine Hand und sie rannten wie zwei kleine Kinder durch den Regen.
Ich sah ihnen lächelnd zu.

"Du bist eine tolle Freundin," sagte Jai plötzlich und trat neben mich.
Überrascht sah ich ihn an.
„Ich habe den Regen nicht hergezaubert, falls du das meinst."
Er grinste.
„Nein, aber die Art wie du die Leute um dich herum liebst, ist einzigartig. Bedingungslos."
Er sah mich mit einem tiefen Blick an, die Art, die einen das Atmen vergessen ließ.
Er wandte seine Augen wieder von mir ab und ich konnte endlich wieder Luft holen.
Eine Weile schauten wir dem Treiben zu und den Zwillingen, wie sie durch den Schnee tanzten, dann sagte Jai: "Meinst du, ich kann dich mal für eine halbe Stunde entführen? Ich würde dir gerne etwas zeigen."
„Und was?" Ich konnte meine Neugierde nicht ganz verbergen.
Er grinste und mir ein lief ein Schauer über den Rücken. Durch den Regen auf meiner Haut wurde es aber auch mittlerweile wirklich kühl.
„Komm mit."
Ohne meine Antwort abzuwarten, lief er los und ich ging ihm zögernd nach.

TelepathyWhere stories live. Discover now