Kapitel 17

94 13 1
                                    

If it doesn't challenge you, it won't change you.
- Unknown -

In den nächsten Wochen trainierte ich jeden Tag wie verbissen.

Ich boxte, lief, kämpfte, trainierte meine Kraft bis zur Erschöpfung, machte gefühlt zehntausend Liegestütze und lernte sogar schießen.
Ich wusste zwar nicht, wozu das Schießen gut sein sollte, aber es gehörte laut Jai zu der Ausbildung und ich schoss ja nur auf Zielscheiben und nicht auf etwas lebendiges und deshalb machte ich brav, was er sagte.

Nach drei Wochen merkte ich bereits, dass ich schlanker um die Hüfte war durch das Laufen, aber breiter an den Oberschenkeln durch das Muskeltraining.
Mir fiel auch auf, dass ich mich seit ziemlich langer Zeit nicht mehr im Spiegel angeschaut hatte. Ich wollte gerne wissen, wie ich aussah, doch weder im Waschraum, noch im Schlafsaal, noch sonst irgendwo fand ich Spiegel.

Je länger ich im Lager wohnte, desto wohler fühlte ich mich erstaunlicherweise und desto mehr Leute lernte ich kennen.
Olivia, Harry, Reign und ich waren mittlerweile fast unzertrennlich geworden und auch mit Saige war ich inzwischen gut befreundet.
Meine anfänglichen Sorgen waren wie weggeblasen und manchmal erwischte ich mich dabei, wie ich mehrere Tage nicht an Houston dachte.

Klar vermisste ich meine Freunde und Familie noch, aber ich sehnte mich nicht mehr so nach meinem alten Zuhause.

Zuhause.

Hatte ich überhaupt noch so etwas? War das hier jetzt mein neues Zuhause? Ich wusste es nicht und es war mir eigentlich auch egal. Hier war ich zumindest gut aufgehoben, ich war in Sicherheit, ich lernte mit meiner Kraft umzugehen, ich bekam Essen und Schlaf und ich hatte auch hier Leute, denen ich wichtig war.

Die Trennung von Houston fiel mir vielleicht leicht, aber die Trennung von meinen Freunden und meiner Familie eher nicht.
Meine Eltern und ich hatten nie eine gute Beziehung gehabt, aber sie waren trotzdem noch meine Eltern.
Wie konnte ich sie nicht vermissen?

Nach eineinhalb Monaten sagte Jai mir schließlich, dass meine Ausbildung abgeschlossen sei und ich meine Aufgabe bekommen würde.

Mittlerweile konnte ich nicht nur komplett schmerzfrei meine Kraft anwenden, sondern sie auch noch kontrollieren. Ich las nicht zwangsläufig die Gedanken desjenigen, dem ich in die Augen sah, sondern konnte meine Kraft an-und abschalten.
Etwas, was nicht jeder so gut konnte wie ich. Auch nach monatelangem Training nicht.
Ich freute mich riesig darüber und war erleichtert, dass ich es innerhalb des Fensters von zwei Monaten geschafft hatte.

Doch meine anfängliche Begeisterung wurde schnell getrübt, als Jai mir meine Aufgabe mitteilte: Jagen und Sammeln.

„Willst du mich auf den Arm nehmen? Was soll ich denn da?," fragte ich Jai entrüstet.
„Naja. Jagen und Sammeln, würde ich mal sagen," erwiderte er trocken und ohne den Anflug eines Lächelns.

Immerhin war ich mit Olivia zusammen, tröstete ich mich.
Trotzdem war ich nicht zufrieden und verdrehte die Augen.
Ich wollte auch nicht unbedingt der Armee beitreten, aber ich hatte mir schon etwas besseres vorgestellt.

„Unterschätze diese Aufgabe bloß nicht. Es ist fast schon eine Ehre, dass man dich dieser Gruppe zuteilt."
„Eine Ehre?," hakte ich nach.

Inwiefern sollte das eine Ehre sein?
Und ich war immer noch keiner essbaren Pflanze oder einem Tier über den Weg gelaufen.
Es gab zwar Geier, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass die essbar waren.
Jai hatte mal wilde Tiere erwähnt, aber wo waren die? Und wenn sie mich so gerne fraßen, wie er sagte, konnte man sie überhaupt jagen?

„Ja, alle Menschen im Lager zählen auf diese Gruppe. Sie ist verantwortlich für unser aller Überleben," fuhr er fort.

Sehr gut. Überhaupt kein Druck.

„Was ist, wenn ich die Leute enttäusche?," fragte ich.
„Das wirst du nicht, denn du bist perfekt für den Job. Zur Jagd braucht man gute Augen und Ohren, eine ruhige Hand, ein gutes Körperbewusstsein und Geduld. Man muss sich lange bewegen und durchhalten können, hervorragend mit Waffen umgehen und töten können."
„Du denkst, dass ich das alles kann?," frage ich ungläubig.

Nie im Leben hatte ich ruhige Hände und konnte hervorragend mit Waffen umgehen. Außerdem war ich der ungeduldigste Mensch der Welt und ob ich töten konnte... Tja, keine Ahnung. Ich hatte es zumindest noch nie getan und ob ich dazu fähig war, wusste ich auch nicht.
Bisher war ich mit den Zielscheiben aus Holz ganz zufrieden gewesen.

Doch Jai nickte, als wäre er voll überzeugt. „Allerdings. Ich habe dich ausgebildet, schon vergessen? Du erfüllst alle Bedingungen."
„Aber ich habe noch nie getötet."
„Dann lernst du es jetzt. Mit Waffen umgehen kannst du zumindest. Am Anfang kannst du ja auch erst mal den Sammelteil übernehmen."

Er sagte das so, als wäre Töten etwas völlig alltägliches für ihn und das machte mir etwas Angst.

Nicht überzeugt ließ ich schließlich meine Augen über die karge Landschaft, die Dünen und den ganzen Sand wandern.
„Und wo soll es hier bitte was zum Sammeln geben?"
Jai schaute wissend. „Wart's nur ab."
Damit ging er und ließ mich verdutzt zurück.

Wie Olivia sollte ich mich in der Lagerhalle bei Phoenix melden und als ich diese betrat, sah ich suchend umher, bis mich ein Mann, der an einem Jeep mit Getreidesäcken lehnte, angrinste und auf mich zukam.
„Hey, ich bin Phoenix. Du musst Quinn sein," sagte er in einem starken Akzent, den ich nicht richtig einordnen konnte.

Doch das war es nicht, was mich ihn anstarren ließ.
Er war groß und schlaksig, hatte lange, braune Haare, blitzende Augen in einer undefinierbaren Farbe und ein breites Grinsen im Gesicht. Er sah überhaupt nicht aus wie die anderen Jungs und Männer im Lager, die groß und muskulös waren und stets grimmig oder streng guckten.

Als Antwort auf seine Frage nickte ich bloß.
Er kaute auf einem Getreidehalm, der schon ganz durchgeweicht war und reichte mir ebenfalls einen.
„Willst du auch einen?"
Etwas misstrauisch schüttelte ich den Kopf.
Phoenix zuckte mit den Schultern und spuckte den Getreidehalm aus, bevor er sich einen weiteren zwischen sein Grinsen steckte. Dann musterte mich dann von oben bis unten.
„Bist bei mir eingeteilt worden, ne."
Ich wusste nicht ganz, ob das eine Frage war oder nicht, aber ich nickte wieder.
Auch er nickte und wir starrten uns eine Zeit lang einfach nur an.
„Okay, dann komm mal mit."
Er drehte sich um und ging durch das Tor zu einem kleineren Zelt am Rande des Platzes. Ich folgte ihm.

Wir betraten das Zelt und ich atmete auf, als ich nur bekannte Gesichter sah.
In dem Zelt verteilt standen Olivia, Jamie und Jona, die zwei Jungen von dem ersten Tag meiner Ausbildung, und Reign, wie ich erfreut feststellte.
Beide Mädchen lächelten mich freudig an und umarmten mich und die Jungs nickten mir zu.
„So Leute, dann legen wir mal los," sagte Phoenix jetzt. „Hier sind eure Waffen."

Wir bekamen nacheinander zwei Messer gereicht. Ein langes mit glatter, aber scharfer Klinge und dann noch ein kurzes, das an der Klinge gezackt war. Beide sahen extrem gefährlich aus und als ich nur ganz leicht mit dem Zeigefinger das glatte Messer berührte, hatte ich mich sofort geschnitten. Fluchend saugte ich an der kleinen, aber schmerzhaften Wunde und verstaute das Messer wieder in seiner Scheide.

Phoenix reichte mir ein Pflaster.
„Bist vorsichtig, ne."
Dankbar nickte ich, aber innerlich verdrehte ich die Augen. Dieser Typ hatte vielleicht eine komische Art zu reden.

Wir bekamen auch noch einen kleinen Rucksack, in dem eine Flasche Wasser steckte, sowie eine Packung Streichhölzer, Jod, eine Plastikplane, ein Seil, Sonnencreme, eine
Kappe, Knäckebrot und getrocknetes Fleisch.
Für mich sah es so aus, als wären all das Dinge, die man zum Überleben brauchte und auch das bereitete mir ein wenig Sorgen. Und ich fragte mich auch immer noch, wo wir hier Essen finden sollen. Aber irgendwo musste es ja etwas geben. Woher bekamen wir sonst unsere Nahrungsmittel?

Nachdem wir alle unseren Rucksack geschultert und unsere Messer verstaut hatten, sahen wir Phoenix erwartungsvoll an.

„Wir werden eine Weile laufen, also macht euch auf einen längeren Marsch gefasst. Ich werde vorgehen und ihr lauft hinter mir her. Kommt ja nicht vom Weg ab, lauft immer dort, wo ich auch laufe und falls irgendwas ist: Rufen," erklärte er uns, dann schob er die breite Zeltplane zur Seite und trat ins Freie.

TelepathyWhere stories live. Discover now