Kapitel 13

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The only limits for tomorrow are the doubts we have today.
- Pittacus Lore, The Power of Six -

Ich wurde geweckt von einem lauten Klingeln.
Mit einem Grunzen zog ich mir die Decke über den Kopf und versuchte, den schrillen Ton zu ignorieren.
Doch schon im nächsten Moment rüttelte mich jemand an den Schultern.
„Quinn," vernahm ich Olivias Stimme.
„Mhm," machte ich.
„Quinn, steh auf," zischte sie und ich schob die Decke von mir.
„Wie viel Uhr ist es?," fragte ich mit noch halb geschlossenen Augen.
„Sechs. Steh jetzt auf!," sagte sie noch einmal.
Mühsam richtete ich mich im Bett auf und schwang dann meine Beine über die Bettkante.
„Was ist denn los?," fragte ich und gähnte.
„Es gibt eine Ansage, draußen vor dem Tor."
„Eine Ansage?," wiederholte ich.
„Hier ist ein frisches T-Shirt und Unterwäsche," überging Olivia meine Frage und reichte mir beides.

Schnell zog ich mich um und folgte dann ihr und Harry nach draußen, wo sich alle auf dem Platz versammelten.
In der Mitte auf einem großen Stein stand Jai mit einem kleinen, drahtig gebauten Mann, der grüne, abstehende Haare hatte und über und über mit Tattoos und Piercings bedeckt war.

Mein Herz setzte für einen Moment aus. Zuhause galt so etwas als unfein, sogar hässlich, und es gab viele Vorurteile über diese Menschen.
Hier schien es niemanden zu stören.

„Das ist Odie," wisperte mir Olivia zu. „Einer der Anführer des Lagers."
„Das ist der Anführer?," fragte ich ungläubig zurück.
Sie nickte.
„Ich dachte, der Typ mit der Narbe wäre der Anführer."
Sie runzelte die Stirn. „Meinst du Blake? Schwarze Locken, groß, breit?"
Ich nickte.
„Nein, der ist bloß Kämpfer und bildet auch andere aus. Die Leiter des Lagers sind Odie und Jai."
Jai auch? Das hatte er mir gar nicht so gesagt.

Odie wartete mehr oder weniger geduldig, bis jeder eingetroffen war, dann erhob er seine Stimme.
„Freunde," begann er. „Heute wird viel passieren. Die Fünf werden trainieren, um bald wieder losziehen zu können. Das Kampftraining beginnt heute und es werden neue Aufgaben verteilt werden. Kämpfer, ihr könnt mit Blake schon zum Übungsplatz gehen," sagte er und ein paar Menschen, darunter Leo und auch Harry, liefen zu dem Mann mit der Narbe, der etwas abseits stand.
„Wer sind die Fünf?," fragte ich Olivia.
„Das sind fünf Outsider, die regelmäßig die Stadt überwachen, Informationen zu aktuellen Ereignissen liefern und Vorräte und Waffen mitbringen."

Genau in dem Moment gingen fünf Leute nach vorne und stellten sich neben Jai.
Ich erkannte Teala, das missmutige Mädchen von gestern Abend, ein weiteres Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und blasser Haut und ein Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen, das bestimmt vier Köpfe kleiner war als sie. Sie sah aus, als wäre sie erst zwölf Jahre alt. Hier waren also auch Kinder? War so etwas überhaupt erlaubt? Das war doch Kinderarbeit.

Neben der kleinen stand ein großer Mann mit dunkler Haut und rasiertem Schädel.
Er schaute grimmig in die Menge, hielt aber die Hand des kleinen Mädchens fest, als wäre er ihr Beschützer.
Mein Blick ging weiter zum letzten Mitglied der Fünf.
Sofort erinnerte ich mich an ihn.
Es war der Polizist mit den Dreadlocks, der uns Leos Verschwinden mitgeteilt hatte.

„Ich kenne den," flüsterte ich und zeigte auf ihn.
„Wen, Lance? Den ganz rechts?," fragte Olivia.
„Ja."
„Woher kennst du ihn?"
„Aus Houston. Ich dachte, er wäre Polizist."
„Die meisten Outsider haben eine zweite Identität, mit der sie sich in Houston bewegen. Ansonsten wäre es viel zu gefährlich."

Odie fuhr mit seiner Ansprache fort.
„Alle, denen noch keine Aufgabe zugeteilt wurde, kommen zu Jai, die anderen wenden sich wie gewohnt ihrer Arbeit zu. Das war's."
Damit stieg er von dem Stein runter und ging zurück ins Gebäude. Jai blieb stehen, um zu warten.
Zögerlich ging ich auf ihn zu und sah, dass Olivia mitkam. Sonst keiner. Überrascht sah ich sie an. „Du hast noch keine Aufgabe? Aber Harry..."
„Harry wurde an seinem ersten Tag zugeteilt. Bei mir haben sie gesagt, sie warten lieber noch ein bisschen."
Den letzten Satz sagte sie mit Abscheu in der Stimme.
„Wie lange seid ihr denn schon hier?"
„Etwas mehr als einen Monat. Wir kamen kurz vor deinem Bruder.
Ungläubig sah ich sie an. Sie und ihr Bruder wirkten so erfahren, so selbstsicher. Ich dachte, dass sie schon länger hier waren.
„Und was hast du in dieser Zeit gemacht?"
„Ich wurde in meiner Kraft weiter ausgebildet. Harry haben sie nach ein paar Wochen getestet und festgestellt, dass er tatsächlich schon alles konnte."

Wir kamen bei Jai an und sahen ihn erwartungsvoll an.
„Nur ihr beide?"
Wir nickten.
„Also gut." Er guckte auf eine Liste in seiner Hand. „Olivia, du wurdest mittlerweile zugeteilt."
Ich sah im Augenwinkel, wie sie vor Freude strahlte.
„Jagen und Sammeln," verkündete er.

Jagen und Sammeln? Verschiedenes ging mir durch den Kopf. Erstens, in welchem Jahrhundert lebten wir bitte? Zweitens, was und wo zur Hölle sollte man hier jagen und sammeln? Gut, es gab ja die wilden Tiere, aber sammeln? Weit und breit sah ich hier keinen einzigen Strauch oder Baum, der verwertbar war.

Doch Olivia schien sich zu freuen.
„Du kannst zur Lagerhalle gehen, dort wartet Phoenix auf dich."
Sie umarmte mich, dann wünschte sie mir viel Glück und sah mich dabei etwas mitleidig an. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Was würde auf mich zukommen?
„Also gut, Quinn," sprach mich jetzt Jai an.

Ich hasste es, wenn er meinen Namen sagte. Aus seinem Mund klang er wie ein widerliches Tier.
Außerdem wirkte er heute wieder ganz anders als gestern Abend, sodass ich mir sicher war, unser Gespräch nur geträumt zu haben.

„Du wirst zu dem großen Zelt dort vorne gehen," sagte er und zeigte zu dem größten Zelt auf dem Platz.
„Was ist meine Aufgabe?," fragte ich.
„Ausbildung."
„Ausbildung?"
„Ja. Du wirst dort lernen, deine Kraft zu kontrollieren."
„Ich kann, ehrlich gesagt, ziemlich gut mit meiner Kraft umgehen," erwiderte ich mit Empörung in der Stimme. Ich wusste zwar, dass das nicht unbedingt stimmte, aber ich wollte nicht, dass Jai mich so unter sich stellte.
Er hob die Augenbrauen und sah mich abschätzig an.
„Glaub mir, das kannst du nicht," antwortete er nur.
Es machte mich wahnsinnig, wie ruhig und selbstgerecht er war.
„Aber...," setzte ich zu einer Erwiderung an.
„Zelt. Jetzt," fuhr er mich an.
Ich senkte den Kopf und ging in Richtung des besagten Ortes.

TelepathyOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz