Kapitel 10

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We don't meet people by accident. They are meant to cross our path for a reason.
- Unknown -

Als ich beim Abendessen eintraf, haute mich der Geruch nach Essen beinahe um und auf einmal merkte ich, wie hungrig ich war. Ich machte Leo unter den Menschen aus und setzte mich zu ihm.

„Alles okay?," fragte er mich.
„Ja, nur hungrig," antwortete ich.
„Und? Was hast du noch für Fragen?"
„Zu viele," sagte ich lächelnd. „Aber ich bin unglaublich hungrig und müde, also lass uns morgen reden. Wenn ich dann noch da bin," fügte ich leise hinzu.
Er sah mich mit einem unergründlichen Blick an. „Was meinst du damit?," fragte er mit einem scharfen Ton.
Ich seufzte. „Kommst du dir hier nicht vor wie in einem Gefängnis? Und hast du gar kein Problem damit, dass du einfach hierhin verschleppt wurdest?"
Er sah mich an, als wäre ich verrückt geworden.
„Nein, natürlich nicht. Wir sind hier doch in Sicherheit. Zuhause wären wir in Gefahr und müssten uns verstecken. Willst du das etwa? Dich verstecken?"

Darauf hatte ich keine Antwort. Um ehrlich zu sein, hatte ich so auch noch nicht darüber nachgedacht. Ich glaubte, ich hatte lieber ein riesengroßes Geheimnis und war frei und in meiner gewohnten Umgebung, als dass ich mitten in der Wüste mit merkwürdigen, fremden Leuten festsaß.

„Aber hast du uns überhaupt nicht vermisst? Mom und Dad sind fast umgekommen vor Sorge!," sagte ich stattdessen.
Der Blick, den er mir gab, sagte mehr als tausend Worte.
„Natürlich nicht," flüsterte ich. „Du denkst doch immer zu bloß an dich selbst."
„Quinn,..."
„Vergiss es," unterbrach ich ihn scharf und spürte einen Stich in meiner Brust.

Im Gegensatz zu meiner Stimmung war die Atmosphäre in dem großen Saal einzigartig. Die Leute redeten durcheinander, tranken, lachten, standen auf, rufen und sangen.

Ich fühlte mich unwohl.

Zuhause ging bei uns alles sehr gesittet zu. Wir hatten alle ordentlich dazusitzen, wir hielten die Tischmanieren ein und singen durften wir am Tisch auf keinen Fall.
Hier war das Essen nicht wie bei uns zuhause einfach nur Nahrungsaufnahme. Es war eine Art kleines Fest, bei dem die Mahlzeiten richtig zelebriert wurden.
Es sollte mich wohl glücklich machen, wie jeden hier, doch es stresste mich eher. Ich würde lieber einfach nur hier sitzen und das Essen zu mir nehmen.

Zögernd sah ich in den Topf, der vor mir auf dem Tisch stand. Es war einen Eintopf mit Fleisch und Bohnen. Ich schöpfte mir davon eine kleine Menge auf den Teller und als ich einen Bissen davon nahm, kam es mir vor wie das Beste, was ich jemals gegessen hatte.
Seufzend schloss ich wieder die Augen und versuchte herauszufinden, was das bloß für Gewürze waren, die ich schmeckte.

„Lecker oder?," fragte mich da jemand von der anderen Seite des Tisches und als ich aufsah, blickte ich in ein Paar blaue Augen, die zu einem blonden Mädchen gehörten.
Ich konnte nur nicken, weil es so gut schmeckte und sie lächelte noch breiter.
„Du bist neu hier oder? Nach meiner Ankunft hatte ich auch so einen Hunger und das Essen war der reinste Segen," sagte sie.
„Geht mir genauso," sagte ich und schaute sie vorsichtig an. Mittlerweile war es mir möglich, Leute länger als drei Sekunden angucken, ohne gleich zu lesen, was sie dachten. Ich wollte es trotzdem nicht provozieren.

„Ich bin Olivia," sagte das Mädchen und reichte mir die Hand über den Tisch hinweg.
„Quinn," antwortete ich und und schüttelte ihre Hand.
Ich sah, dass sie noch etwas sagen wollte, doch dazu kam sie nicht mehr, weil plötzlich ein Gong ertönte und alle Gespräche verstummten.
Ich sah Jai, der auf den Tisch, an dem er saß, stieg und seine Tasse hob.
„Mitglieder, heute haben wir wieder etwas zu feiern. Wir haben einen Neuankömmling in unserer Runde! Den ersten dieses Monats. Hebt eure Tassen auf Quinn!," rief er und streckte seine Tasse in meine Richtung.
Sofort drehten sich alle Köpfe zu mir und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
„Hebt die Tassen," rief die Menge zurück und johlte.
Ich lächelte verkniffen und wünschte mir, dass dieser Moment so schnell wie möglich vorbei ging.
Zum Glück setzte Jai sich wieder und alles nahm seinen gewohnten Lauf.

„Das war bei meiner Ankunft auch so. Dieses Ritual machen sie immer, wenn jemand neues ankommt. Du bist jetzt offiziell ein Mitglied des Lagers. Herzlichen Glückwunsch," gratulierte mir Olivia und hob noch einmal die Tasse. Die anderen an unserem Tisch taten es ihr nach.
Ich lächelte zwar, doch ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte.

Würde ich meine Eltern und meine Freunde jemals wiedersehen? Würde ich je nach Hause zurückkehren? Würde ich etwa für den Rest meines Lebens in diesem Lager eingesperrt sein? Leo machte das anscheinend nichts aus, aber mir jagte der Gedanke einen Schauer über den Rücken.
Ich hatte doch Pläne. Den Beruf, den ich ausüben wollte, die Dinge, die ich tun und lernen wollte...

Meine Gedanken wurden jäh von einem Jungen unterbrochen, der neben Olivia saß.
Er hatte dunkelbraune Haare und Augen und war sehr muskulös.
„Was für eine Kraft hast du?," fragte er mich.
„Ich kann die Gedanken anderer Menschen lesen," antwortete ich.
Alle am Tisch raunten auf. Verwirrt sah ich sie an.
„Was ist denn?"
„Du bist die erste mit Telepathie seit...," fing Olivia an und sah dann zweifelnd zu Harry und Leo.
„Seit?," hakte ich nach, doch jemand am Ende des Tisches ergriff das Wort, bevor sie etwas sagen konnte.

„Zu früh, O, zu früh."

Die Worte kamen von einem dunkelhäutigen Mädchen mit dunkelbraunen Locken.
„Sie ist noch nicht lange genug dabei, um davon zu erfahren," fuhr sie fort.
„Komm schon Teala. Warum wird denn darum immer so ein Geheimnis gemacht?," fragte Olivia.
„Weil wir nicht wollen, dass sich das Geschehene wiederholt. Und weil man die Toten nicht verachten soll, " antwortete sie und starrte Olivia unverwandt an, sodass diese den Kopf irgendwann abwandte.
„Welche Toten?," fragte ich vorsichtig und sofort blickten mich alle entsetzt an. Teala seufzte. Weil mir niemand eine Antwort gab und sich stattdessen jeder wieder seinem Essen zuwandte, nahm auch ich einen Bissen. Doch jetzt war mein Hals wie zugekleistert und ich bekam den Eintopf kaum runter. Von Tod war hier ziemlich oft die Rede.

„Welche Kraft habt ihr eigentlich?," fragte ich jetzt und Olivia sah mich erleichtert an. Anscheinend war sie froh, dass ich das Thema wechselte.
„Kryokinese," antwortete sie stolz.
„Kryo... was?," sagte ich verwirrt.
Olivia lachte. „Das ist die Fähigkeit, durch Willenskraft die Temperatur zu verringern und Objekte einzufrieren."
„Hast du das aus einem Lexikon auswendig gelernt?," fragte ich und zog eine Augenbraue hoch.
Der Junge neben ihr lachte und sagte: „Ja, so ungefähr. Sie ist eine kleine Klugscheißerin."
„Idiot," lachte jetzt auch Olivia und schubste ihn leicht.
„Seid ihr zwei zusammen?," fragte ich.
Beide sahen mich mit großen Augen an.
„Kommt das etwa so rüber?," fragte Olivia erschrocken.
„Nein, wir sind Geschwister. Zwillinge, genau gesagt," sagte der Junge lachend. „Ich bin übrigens Harry."
„Ihr seht euch aber nicht besonders ähnlich," stellte Leo fest.
Harry verdrehte die Augen. „Ja, das wird uns ständig gesagt. Generell sind wir sehr unterschiedlich. Sie kann Dinge einfrieren, ich kann sie entzünden. Pyrokinese."

Er guckte stolz. Anscheinend waren Kräfte hier etwas, womit gerne angegeben wurde.
„Welche Fähigkeit hast du?," fragte ich Teala. Sie schien ein wenig kratzbürstig zu sein, vielleicht konnte ich sie auflockern.
Erst sah sie mich mit einem merkwürdigen Blick an, dann lachte sie. Auch Harry, Olivia und Leo fingen an zu lachen.
Verwirrt und verärgert sah ich sie an. „Was ist denn so lustig?"
„Ich habe keine Kraft, Schätzchen," antwortete Teala und schaute mich an, als wäre ich ein kleines, dummes Kind.
„Quinn," verbesserte ich sie.
„Jaja." Sie winkte ab.
„Teala ist ein Outsider, sie besitzt keine Kräfte," erklärte mir Olivia, doch ich verstand es immer noch nicht.
„Ein Outsider?"
„Das sind die Leute, die ins Lager aufgenommen wurden, obwohl sie keine Kräfte haben. Zum Beispiel Waisen," klärte mich Harry auf.
„Und was ist dir passiert, dass du hier gelandet bist?," fragte ich wieder Teala.

Olivia zog scharf die Luft ein und Teala sah mich an, als würde sie mich gleich umbringen.
„Hat Jai dir nicht klar gemacht, keine Fragen zu stellen?" raunte sie mir drohend zu, stand mit einem Ruck auf und bohrt ihr Messer in den Tisch, sodass es aufrecht stand.

Damit verließ sie den Tisch und ließ eine angespannte Stille zurück.

TelepathyWhere stories live. Discover now