Kapitel 19

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Sometimes the place you are used to is not the place you belong.
- „The Queen of Katwe" -

Einen Fisch nach dem anderen nahm Phoenix aus und tat das mit einer solchen Präzision, dass es wirkte, als hätte er nie etwas anderes getan.

Uns Mädchen forderte er auf, die Früchte und Nüsse von den Büschen und Bäumen zu sammeln und in unsere Rucksäcke zu tun, die Jungs sollten das zweite Fass mit Wasser füllen.

Als wir fertig waren, sagte er: „Füllt eure Flaschen auf, bevor ich die Überreste ins Wasser werfe," und wir taten, was er sagte.
Nachdem wir sie gefüllt und noch einmal einen kräftigen Schluck von dem köstlichen Wasser getrunken hatten, warf er nach und nach die Überreste zurück ins Wasser, die sofort untergingen. Die fertigen Fische legte er in das Netz zurück und warf es sich über die Schulter.

„Auf geht's. Bald wird's dunkel und wir müssen rechtzeitig im Lager zurück sein."
Schwer bepackt stieg Phoenix die Düne wieder hinauf und wir folgten ihm, wobei wir wieder darauf achteten, in seine Fußstapfen zu treten. Diesmal trugen Reign, Olivia und ich das Fass zusammen und es war tatsächlich leichter als ich dachte.
Diesmal wollte ich jedoch am Ende der Gruppe blieben, um in Ruhe nachdenken zu können.

Nach einer Weile bemerkte Olivia meine Stille. „Hey, was ist eigentlich mit dir los? Du benimmst dich schon die ganze Zeit so komisch."
„Nichts," antwortete ich bloß.
„Komm schon, Quinn. Was stimmt nicht?"
„Es ist nur...," ich seufzte. „Findest du diese Oase gar nicht komisch?"
„Wieso? Sollte ich?"
Ich grunzte. „Ja, solltest du. Wasser, in der Wüste, das niemals endet. Fische, die in endloser Menge vorhanden sind. Früchte, die man in Houston in keinem Spezialitätenladen findet. Das ist doch merkwürdig."
„Na und? Eigentlich ist es mir völlig egal, woher das alles kommt oder ob es merkwürdig ist. Es existiert, das ist das wichtigste."

Ich runzelte die Stirn und blieb stehen. „Wie kannst du so etwas sagen? Vielleicht sind wir deswegen in Gefahr. Vielleicht müssen wir uns behaupten."

Auch Olivia blieb stehen. Sie sah genervt aus. „Vor was? Oder wem? Einem Gott, der eine Nahrungsquelle für hundert Jugendliche mitten in einer Wüste, in der keiner alleine überleben kann, geschaffen hat, mit allem was das Herz begehrt? Ja, Quinn, wir sind wirklich in Gefahr."

Den letzten sarkastischen Satz überhörte ich und trat einen Schritt näher an sie heran. „Ganz genau."

Jetzt verdrehte sie die Augen. „Ich glaube, du bist paranoid."

Gerade wollte ich etwas erwidern, da rief uns Phoenix etwas aus der Entfernung zu.
Wir hatten ganz übersehen, dass die anderen uns abgehängt hatten.
„Wo bleibt ihr denn? Das mit der Dunkelheit war kein Witz. Es sei denn, ihr findet es lustig, von wilden, mutierten Tieren aufgefressen zu werden."
Er drehte sich wieder um und die anderen folgten ihm. Auch O und ich bemühen uns, zu ihnen aufzuschließen, während Reign uns hinter sich herzog.

Während wir liefen, sagte Olivia: „Hör zu, Quinn. Du solltest endlich mal damit aufhören,
bei allem und jedem misstrauisch zu sein und einfach mal dankbar dafür sein, dass du ein Dach über dem Kopf hast und Essen und Trinken. Sonst bringst du dich irgendwann noch selbst in Gefahr."
Damit schwieg sie und lief ab jetzt neben Reign.

Als wir im Lager ankamen, wurden wir mit Jubel und lautem Rufen empfangen. Nur Blake stand wieder in einer dunklen Ecke und verzog keine Miene.
Auch Ryu und Jai sah ich, doch sogar sie riskierten nicht einmal den Anflug eines Lächelns.

Wir gingen auf direktem Weg zur Lagerhalle und luden die Lebensmittel in die richtigen Jeeps. Nur das Fass mit dem Wasser wurde Jai und Odie gegeben, die es an den geheimen Ort brachten.

Als wir fertig waren, setzte ich mich müde auf einen Getreidesack und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich hatte das Gefühl, dieser Tag war der anstrengendste meines Lebens gewesen.
Anstrengender als jeder Schultag und jedes Lauftraining.

Unweigerlich muss ich wieder an meine Freunde zuhause denken. Was sie wohl gerade machten? Ob sie überhaupt an mich dachten? Suchten sie nach mir?

Und Mom und Dad? Kümmerte es sie eigentlich, dass ihre Tochter nun auch noch verschwunden war?

Nur eine Person fiel mir ein, die ganz sicher froh über mein Verschwinden war.
Violet.
Und wenn ich ehrlich war, vermisste ich sie auch nicht.
Ob sie wohl glücklich mit Alec war? Wahrscheinlich gaben die beiden das perfekte Paar ab.

Überrascht stellte ich auf einmal fest, dass ich gar nicht mehr traurig über die Trennung von Alec war. Wenn ich so zurück dachte, war es sogar gut, dass es mit uns nicht geklappt hatte. So gut wie ich immer gedacht hatte, hatten wir gar nicht zusammengepasst.

Ich atmete tief durch. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte mich. Hier passierte so viel, dass mir die Probleme zuhause regelrecht unbedeutend vorkamen.
Trotzdem konnte ich nicht sagen, dass ich nicht manche Dinge von zuhause vermisste.

Mein Blick ging nach oben.

Draußen vor dem Tor betrachtete ich die schwarzen Silhouetten, die sich von dem roten Sonnenuntergang abhoben. Da waren auch Olivia und Harry, die sich in die Arme fielen und lange so stehen blieben.
Ich spürte einen Stich im Herzen und musste an Leo denken. Ich vermisste unsere gemeinsame Zeit.
In der letzten Zeit hatte er sich konsequent von mir ferngehalten. Das letzte Mal, als ich richtig mit ihm geredet hatte, war bei meinem ersten Abendessen gewesen und da hatten wir uns nur gestritten.

Ich musste ihn sehen. Ich überlegte, wo er sein konnte und kam nur auf eine Idee: Das Armeegelände natürlich.

Schnell stand ich auf und lief von der Scheune zu der Düne, unter der sich das Gelände befand. Und tatsächlich: Der Platz war menschenleer, bis auf eine Person, die gerade einen Boxsack bearbeitete. Trotz der großen Entfernung und obwohl er sich äußerlich so verändert hatte, erkannte ich meinen Bruder.
Entschlossen lief ich die Düne runter und näherte mich ihm.

„Leo?," sagte ich vorsichtig.
Er drehte sich um und sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an.
Ein kleiner Bartansatz war zu erkennen und er wirkte groß und muskulös. Auf einmal sah er gar nicht mehr aus wie mein kleiner Bruder, sondern wie ein erwachsener, starker, selbstständiger junger Mann.

„Quinn," sagte er nur und blieb stehen, wo er war.

Die drei Meter zwischen uns fühlten sich an wie eine unsichtbare Schranke und ich wagte kaum, sie zu überwinden. Doch das musste ich auch gar nicht, weil Leo da schon auf mich zukam und seine Arme um mich schloss.
Erst stand ich da wie erstarrt, doch dann legte auch ich die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Trotz seiner Veränderung roch er so wie immer und dieses bisschen Heimatgefühl jagte mir die Tränen in die Augen.
„Ich hab dich so vermisst," wisperte ich. „Es tut mir so leid."
„Ich dich auch. Entschuldige dich nicht," erwiderte er und drückte mich fester.

Nach einer Ewigkeit lösten wir uns voneinander.
„Ich hab das nicht so gemeint, was ich beim Abendessen gesagt habe. Dass ich nicht an euch gedacht habe. Das habe ich, glaub mir. Die ganze Zeit. Aber es war einfacher, die Gedanken an euch zu vertreiben," erklärte er.
„Aber hätte dir das nicht dabei geholfen, hier klarzukommen?," fragte ich.
„Quinn, ich dachte, ich würde euch nie wiedersehen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du auch herkommen würdest."
„Du denkst wirklich, dass wir Mom und Dad nie wieder sehen werden? Oder unser Zuhause, unsere Freunde?"
„Ja, das denke ich."
„Hast du keine Hoffnung?"
„Das wäre Zeitverschwendung. Du musst realistisch denken, alles andere wird dir hier nicht viel bringen."

Darauf sagte ich nichts. Ich glaubte einfach daran, dass ich sie wiedersehen würde.
Mir war bewusst, dass es vielleicht im Moment nicht ging. Aber ich würde bestimmt nicht mein gesamtes Leben hier verbringen. In ein paar Jahren würde ich sie alle wieder sehen, das redete ich mir ein.

Und das musste ich auch, denn wie sollte ich mein restliches Leben mit der Gewissheit verbringen, dass meine Eltern nie eine Antwort darauf bekommen würden, wohin und wie ich verschwunden war?

TelepathyWhere stories live. Discover now