Kapitel 44

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As long as we're trapped, we still have a chance to escape.
- Sara Grant -

Anfangs war es leicht. Wir waren still und wach, die Häuser waren dunkel und die Straßen leer.

Nach zwei Stunden sah das ganze schon anders aus. Die Stadt fing an, aufzuwachen, die Sonne stieg immer höher und viele von uns verließ die Kraft.
Obwohl auch ich, trotz meiner guten Ausdauer, gerne eine Pause gemacht hätte, mussten wir weiter laufen und rannten so immer schneller durch die Straßen.

Bald schon wichen den kleinen Wohnhäusern große Gebäude, die sich nach weiteren zwei Stunden zu besonders hohen Wolkenkratzern entwickelten. Ich wusste nicht mal ansatzweise, wo wir uns befanden. In diese Gegend von Houston ging normalerweise kein gewöhnlicher Mensch. Hier befanden sich die hohen Tiere, die Politiker und Juristen, Mediziner und Forscher und so weiter.
Ich hatte natürlich schon öfter Hochhäuser gesehen, im Einkaufsviertel zum Beispiel, doch diese hier hatte ich bisher nur aus der Entfernung betrachtet. Erstaunt sah ich von unten an einem silbern glänzenden Exemplar hoch. Es sah von nah noch weitaus höher aus als von weiter weg und das sollte was heißen, da ich sie sogar von meinem Zimmer aus sehen konnte.
Jedes Kind träumte davon, einmal in einen dieser Wolkenkratzer gehen zu dürfen und die Welt von oben zu sehen.
Bestimmt konnte man von dort oben die halbe Welt betrachten.

Womöglich sogar das Lager?

Dieser beunruhigende und gleichzeitig schöne Gedanke brachte mich in die Wirklichkeit zurück.

Wir rannten noch eine Weile weiter, bis Ryu in eine kleine Gasse einbog, die mir so gar nicht aufgefallen wäre, so schmal war sie.
Im leichteren Schritt liefen wir weiter, bis wir die Lagerhalle erreichten und regelrecht nach drinnen fielen.
Obwohl ich fertig wie sonst was war, vermied ich es, laut zu atmen und es mir anmerken zu lassen. Deswegen freute es mich umso mehr, als ich sah, dass Violet sich schwer schnaufend und mit hochrotem Kopf auf ihre Oberschenkel gestützt hatte.

„Alles okay?," fragte Ryu und anhand seines Tonfalls konnte ich hören, dass er sich über sie amüsierte.
„Nei...," sagte sie und bekam vor lauter Atmen kaum ein Wort heraus. Zu allem Überfluss fing sie auch noch so zu husten an, dass ich dachte, gleich würde ihre Lunge kollabieren.

„Also gut. Hier in der Kiste sind Klamotten. Zieht sie so an, dass man die grüne Kleidung nicht erkennen kann."
Nacheinander suchten wir uns Anziehsachen raus, die wirklich hässlich waren.
Die Jungs trugen langweilige Anzüge und wir Mädels hochgeschlossene Kostüme, die wahnsinnig kratzen. Zum Glück konnten wir die Schuhe anlassen.

„So, jetzt beginnt der ernste Teil," sagte Jai und schickte uns alle wieder nach draußen.

Wie bitte, jetzt begann der ernste? Und was war das davor gewesen?

Wir versteckten die Waffen und Munition unter den Anzügen und liefen erneut bis zum Ende des schmalen Weges, wo Jai um die Ecke lugte und dann einen Blick auf seine Armbanduhr warf.

„Alles klar, die Luft ist rein. Jetzt ist es zehn Minuten vor zwölf, um Punkt werden die Leute das Gebäude verlassen. Denkt dran, ihr seid Abgeordnete, okay? Passt euch an."

Auf sein Wort schlüpften wir aus der dunklen Gasse auf die hell erleuchtete Hauptstraße und bemühten uns, wie die anderen Leute auszusehen. Wir taten so, als würden wir telefonieren, mit unserer Begleitung diskutieren und Kaffee schlürfen.
Als wir um die Ecke gingen, befand sich vor uns der Downtown Park, mit der Statue von Sam Houston, dem Gründer der Stadt.

Genau dahinter, steil aufragend wie eine riesige Leuchtsäule, besetzt mit unzähligen Fenstern, die von hier aussahen wie die Facettenaugen einer Fliege, tat sich das Gebäude der Regierung auf.

Daneben, nur halb so imposant und altmodisch mit Sandstein und Verzierungen an den Säulen, war der Scientium, das Ziel unserer Mission.

Eine ungekannte Aufregung packte mich. Wir waren so nah dran, wortwörtlich, nur noch fünfhundert Meter trennten uns vom Ende der Mission.

„Okay, kommt Leute. Es muss so aussehen, als würden wir hier jeden Tag langlaufen," sagte Jai und lief uns mit schnellen Schritten voraus.
Die Menschen um uns herum schienen uns erstaunlicherweise wirklich nicht zu bemerken, sie liefen einfach um uns herum, als würden wir gar nicht existieren.
Am auffälligsten war es, als wir den Vorplatz des Wolkenkratzers erreichten.
Eine einzige schwarz-weiße Masse wuselte um uns herum, füllten die heiße Luft mit lautem Stimmengewirr. Es war, als würde jeder dieser Personen in ihrer eigenen Blase leben und arbeiten. Was schade für sie, aber nützlich für uns war.

Ohne anzuhalten liefen wir weiter zum Eingang.
Wir brauchten ein paar Sekunden, um uns zu orientieren und Lances Freund ausfindig zu machen, doch den Leuten vor uns konnte es gar nicht schnell genug gehen, nach draußen zu kommen und sie drückten uns unerbittlich nach hinten.
Aus Selbstschutz senkte ich den Kopf, in der Hoffnung, niemand würde es auch nur wagen, mich anzusehen, doch in dem Moment schob Lance seinem „Freund" bereits das Geld in die Jackentasche und zog uns nach drinnen, wo wir schleunigst Ryu und Jai zu den Aufzügen folgten.
Fast schon nervös drückte Ryu den Knopf ins Untergeschoss und wie auf Knopfdruck, wortwörtlich, öffnete sich die Tür mit einem Klingelgeräusch.
Er scheuchte uns in den Aufzug und betrat ihn als letzter.
Eine Frau kam angerannt und rief: „Halten sie den Fahrstuhl!", doch er drückte nur wie wild den Knopf zum Schließen der Türen und eine Sekunde, bevor sie uns erreichte, schlossen sich die Türen und wir fuhren hinab in die Unterwelt.

Ich erlaubte es mir, ein wenig aufzuatmen.

„Senkt euren Kopf und redet nichts," sagte Ryu mit zusammengepressten Lippen und wir taten es ihm nach.
Ich schaute nach unten, doch ich traute mich, ein wenig nach links zu schielen.
Jai stand direkt neben mir und ich stand durch die Enge des Aufzugs so nah zu ihm, dass ich trotz des dicken Anzugstoffes die Hitze spüren konnte, die von seiner Haut ausströmte.
Sein Kopf schnellte zu mir und er schaute mich mit einem amüsierten Lächeln an.
Schnell senkte ich wieder den Blick und schaute starr nach unten, bis der Aufzug unser Ziel erreichte.

Mit einem gefühlt ohrenbetäubend lauten Klingeln gingen die Türen auf, doch niemand bewegte sich.
Ryu schielte nach draußen und winkte sich an uns vorbei, nachdem die Luft rein war.
Unauffällig und immer wissend, dass auch hier unten Kameras waren, holten wir unsere Waffen unter den Anzügen hervor und entsicherten sie. Auch wenn Ryu gesagt hatte, dass niemand hier sein würde, man konnte nie wissen.

Es war verdammt unheimlich.

Wo an der Oberfläche noch alles voller Leben, Glas und Luft war, waren die Gänge hier unten eng, dunkel und das Surren der Lüftung machte einen wahnsinnig.

„In ungefähr zwanzig Metern werdet ihr zu euer Linken eine Tür mit der Aufschrift Küche finden, dort müsst ihr rein," sagte Kyle da plötzlich durch das Headset.
Auf diesen Befehl hin schlichen wir uns vorsichtig an den Wänden entlang, bis irgendwann die besagte Tür auftauchte.
Ich überprüfte nochmal meine Pistole und hielt sie schussbereit vor meinen Körper.

Wie in Zeitlupe drückte Ryu die Türklinke herunter.

Obwohl ich natürlich erwartete, dass alles leer sein würde, hob ich die Waffe an.
Was sich als Fehler herausstellte.

TelepathyWhere stories live. Discover now