Kapitel 9

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We only part to meet again.
- John Gay -

„Was machst du denn hier?," fragte Leo.
Ich schob ihn von mir und sagte: „Ich habe keine Ahnung, ich bin vorhin in einem Sack aufgewacht, nachdem mich jemand am Diner betäubt hat und seitdem will mir kaum jemand etwas über diesen Ort hier verraten."
„Ja, mir ist das Gleiche passiert, aber am Strand. Mir wurde ein Tuch vor die Nase gedrückt," antwortete er und ich schüttelte ungläubig den Kopf.

Was sollte das Ganze eigentlich? Wir wurden gegen unseren Willen entführt – auf sehr erschreckende Art und Weise – und dann einfach in irgendein merkwürdiges Lager in der Wüste irgendwo im Nirgendwo gesteckt. Wieso fragte man uns nicht einfach? Warum hatte man nicht schon die Polizei – oder die echte Armee – geschickt und das Lager räumen lassen? Warum gab es überhaupt eine Armee hier? Gegen wen mussten wir uns verteidigen? Warum blieben all diese Leute freiwillig hier?
War das etwa ein schräges Camp, in dem Kinder und Jugendliche zu Soldaten ausgebildet wurden? Ging es nur um unsere Kräfte? Wieso hatten wir die überhaupt?
Fragen über Fragen purzelten in meinem Kopf umher, doch es sah nicht so aus, als gäbe es in nächster Zeit Aufklärung.

Ich schaue zu Jai hoch. Die fünf Minuten waren wahrscheinlich gleich um.
„Lass' uns uns später noch mal reden, okay? Ich habe noch ziemlich viele Fragen," sagte ich.
„Alles klar. Wir sehen uns bestimmt beim Abendessen."
„Abendessen?," fragte ich und zog die Augenbraue hoch.
Leo verzog seinen Mund zu einem Grinsen. „Dachtest du etwa, wir arbeiten nur und essen nichts? Wir sind vielleicht Mutationen, aber trotzdem haben wir noch menschliche Bedürfnisse."
„Muta...?," fing ich an und riss die Augen auf, wurde aber jäh von Jai unterbrochen, der brüllte: „Zeit ist um!"
Ich verdrehte die Augen.
„Der Typ geht mir echt auf die Nerven," sagte ich zu Leo.
„Glaub mir, der ist noch einer der Netteren," antwortete er, wieder grinsend und sah rüber zu dem Mann mit der Narbe.
Er bewegte seinen Kopf ein wenig und ich war mir sicher, dass er uns gehört hatte.
Weil ich mir keinen Ärger einhandeln wollte und weil der Typ aussah, als könnte er mich mit einem Faustschlag zu Hackfleisch zermalmen, umarmte ich Leo noch einmal und ging dann den Hügel wieder nach oben, wo Jai schon ungeduldig auf mich wartete.
„Na endlich," sagte er nur und wendete sich ab.
„Wo gehen wir hin?," fragte ich.
„Ich werde dich herumführen. Das Lager ist groß und wenn du deine Aufgabe gestellt bekommst, wirst du dich überall auskennen müssen."
„Was für eine Aufgabe?"
Er seufzte nur.

Wir kamen wieder an das Hauptlager mit seinen vielen kleinen und großen Zelten und dem großen Fabrikgebäude vorbei.
Zum ersten Mal fragte ich mich, was ein Fabrikgebäude mitten in der Wüste zu suchen hatte. Merkwürdig war hier einiges.
„Das sind vor allem Lagerzelte, aber es gibt auch die Lagerräume im Gebäude, die du eben schon gesehen hast."
Wir verließen den Bereich mit den Zelten und liefen zum Gebäude. Doch wir gingen nicht zum großen Tor, sondern zu dem Raum, in dem ich aufgewacht war.
„Das ist das Übergangszimmer, wo unsere Neuankömmlinge versorgt werden. Aber das kennst du ja schon. Die Kiste dort ist zwar mit Kleidern für sie gefüllt, aber du kannst dir ruhig mal etwas daraus aussuchen. Wir haben aber auch Kleidung bei den restlichen Vorräten."
Jetzt sah er an mir hoch und runter und blieb an meinen roten Wangen hängen. „Willst du das vielleicht jetzt machen? Du siehst leicht erhitzt aus."
Dankbar nickte ich.
Ich machte ich mich schon an der Kiste zu schaffen, als ich bemerkte, dass er sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
Ich räusperte mich. Als nichts passierte, sagte ich: „Kannst du dich bitte umdrehen?"
Als wäre er aufgerüttelt worden, blinzelte er ein paar Mal und antwortete: „Klar. Ich warte draußen."
Er ging vor den Vorhang und drehte sich mit dem Rücken zu mir.
Ich suchte aus der Kiste ein grünes Top heraus und ein Paar braune Shorts, behielt aber die Schuhe. Zusätzlich fand ich an meinem Handgelenk noch ein Haargummi und band meine Haare damit zu einem Zopf. Sofort wurde mir angenehm kühler.
Während ich mich auszog, ließ ich Jai kein einziges Mal aus den Augen. Womöglich kam er noch auf die Idee, zu spannen.

TelepathyWhere stories live. Discover now