Kapitel 25

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Never trust your fears, they don't know your strength.
- Athena Singh -

Die Kälte und Dunkelheit blieben nun durchgängig gleich, aber mir fiel noch etwas auf:
Es wurde stetig leiser.

Das fröhliche Vögelgezwitscher war kaum noch zum hören, das Rascheln der Hasen im Gebüsch war verstummt und die Blätter der Bäume rauschten nicht mehr im Wind.

Jetzt wusste ich, was Totenstille bedeutete.

Zuhause in Houston war irgendwie immer ein Geräusch vorhanden. Das Brummen der Autos und Busse, Klimaanlagen, kochendes Wasser auf dem Herd, Hupen, spielende Kinder, ich könnte ewig so weitermachen.

Doch hier war auf einmal nichts mehr zu hören.
Absolut nichts.

Schließlich blieben wir stehen.

Auch die Natur sah hier ganz anders aus.
Viele Bäume waren kahl und abgestorben, es gab keine bunten Blumen und die Erde war schlammig, sodass ich fast darin stecken blieb.

„Phoenix?," flüsterte ich schließlich, nachdem niemand etwas sagte. „Was ist das hier für ein Ort?"
„Das Zuhause der Mutationen," sagte er so leise zurück, dass ich es fast nicht verstand.
„Was? Wie meinst du das?," fragte Jamie.

Jetzt drehte er sich um.
„Ihr erinnert euch, dass ich euch am Anfang von den Mutationen erzählt habe? Die Kreaturen, die Bestien?"

Natürlich erinnerten wir uns.

„Tja, hier leben sie."
„Sollten wir uns nicht lieber Schutz suchen und uns verstecken? Die sind doch wahnsinnig gefährlich," murmelte Olivia.
„Und bestimmt zäh wie sonst was," fügte Reign hinzu.

Plötzlich lachte Phoenix.
„Ach Kinder, ich glaube, ihr habt noch nie erlebt, wie es ist, zu hungern. Da isst man sogar Fleisch von diesen Bestien," antwortete er an Reign gerichtet.

„Und es geht nicht nur darum, sie zu töten, um sie zu essen. Wir müssen sie töten, damit sie uns nicht töten."
„Aber ist das denn schon mal vorgekommen?," fragte ich. „Also, dass die Mutationen in das Lager gekommen sind?"

Auf einmal sah er mich mit einem sehr strengen Blick an, einem, den ich zuvor nicht an ihm gesehen hatte.

„Ein Mal. Und das eine Mal reicht. Es soll sich nicht wiederholen."
„Und was ist da passiert?," fragte Jona.
„Schluss jetzt!," rief Phoenix da auf einmal und wir zuckten zusammen.

„Es reicht. Wir konzentrieren uns nicht auf die Vergangenheit, sondern auf das Hier und Jetzt. Die Bestien sind überall um uns herum und warten nur darauf, uns anzugreifen. Also werde ich euch jetzt als allererstes unsere Taktik erklären."

Das tat er schließlich.

Wir würden zunächst eine Weile in den Bäumen sitzen und die Gegend von oben betrachten, meist kamen da schon einige Bestien, da sie sich in Sicherheit wogen. Das klappte allerdings nur, wenn wir extrem leise waren, erklärte uns Phoenix. Wie wir hatten diese Mutationen auch geschärfte Sinne.
Wenn sich eine Bestie annäherte, würden Jona und Reign als erstes das Tier wehrlos schießen und anschließend Olivia, Jamie und ich mit Messern und Speer den Rest erledigen.
Falls wir durch diese Methode kein Tier erlegen oder fassen konnten, würden wir uns auf den Weg durch den Wald machen, um offensiv welche zu erwischen.

Ich hoffte inständig, dass ich nur auf meinem Baum sitzen musste und Jona und Reign die ganze Arbeit erlegen würden.
Jetzt war es mir auf einmal egal, mich zu beweisen. Ich war nicht scharf darauf, ein Lebewesen zu erstechen, so böse es auch sein mag. Hätten wir nicht wenigstens mit den Hasen von vorhin anfangen können?

Wir nahmen trotzdem unsere jeweiligen Plätze in dem Baum ein und verharrten dort, so leise es ging.
Meiner Meinung nach gaben wir überhaupt keine Geräusche ab, doch Phoenix schaute uns jedes Mal streng an wenn wir nur ein bisschen die Sitzposition wechselten.

Die Zeit verging so langsam, dass ich das Gefühl hatte, ich säße hier schon seit Jahren, aber es waren lediglich zwei Stunden vergangen.
Ich wollte gerade fragen, ob wir nicht so langsam mal runter von dem Baum konnten, da ertönte ein Knacken in den Bäumen.

Phoenix' Blick schnellte hoch und sein ganzer Körper spannte sich an.
„Da," flüsterte er und zeigte durch eine Astgabel hindurch.

Tatsächlich streifte da ein Lebewesen durch das Gebüsch.

Erst konnte ich es nicht richtig erkennen, doch dann trat es in das wenige Licht, das durchkam und ich schrie fast auf.

Ich wusste gar nicht, wie ich dieses Tier beschreiben sollte. Phoenix' Begriff, Bestie, war der, der es am besten traf.

Eine Kreatur, drei Mal so groß wie ein Bär, mit mindestens einem halben Meter langen Reißzähnen, riesigen Pranken, doppelt so groß wie mein Kopf, und einem langen zotteligen Fell kam auf uns zu.

Doch das Schlimmste waren die Augen. Sie waren grün, durchdringend und durch und durch boshaft blickend.

Das da vor uns war eine Tötungsmaschine, eine wahrhafte Mutation.

Auf einmal hatte ich so furchtbare Angst, dass ich nichts mehr um mich wahrnahm und deshalb auch nicht mitbekam, wie Phoenix rief, wir sollten uns bereit machen und Olivia und Reign ihre Waffen zückten.

Ich merkte auch kaum, wie Reign mich auf einmal am Arm zerrte und sie dadurch vergaß, zu schießen. Ich sah nicht, wie die Bestie auf uns zu rannte, angestachelt von den Kugeln aus der Waffe von Jona, der angsterfüllt zurückwich.

Phoenix schrie meinen, Jamies und Olivias Namen, die anderen beiden zückten ihre Waffen, doch ich blieb einfach nur sitzen.
Schließlich hörte ich nur noch Schreie, ohrenbetäubendes Gebrüll, einen lauten Knall und dann spürte ich, wie mein Kopf zur Seite gerissen wurde und wie meine Wange brannte.

Endlich erwachte ich aus meiner Trance.

„Was ist los mit dir?," brüllte mir Phoenix ins Gesicht. „Wir hätten alle sterben können, verdammt!"

Seine Augen waren weit aufgerissen und er schrie so sehr, dass Spucketröpfchen flogen, aber ich traute mich nicht, mich zu bewegen.

„Ich war nur..."
„Was? Abgelenkt?!," unterbrach er mich. „Du kapierst es einfach nicht. Hier kommt es auf jeden an. Wir sind ein Team. Wenn wir nicht alle zu hundert Pro Cent konzentriert sind, kann alles schief gehen."

Er schnaubte und strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht.

„Zum Glück ist nochmal alles gut gegangen," sagte er, jetzt leiser. „Aber das nächste Mal Mädchen, das schwöre ich dir, werden wir nicht mehr so viel Glück haben."

Er bewegte seinen Kopf nach rechts und sah nach unten.
Mein Blick folgte seinem.

Am Fuß des Baumes lag die Bestie, leblos und überströmt von Blut.
Ich merkte, wie sein Blick wieder auf mich richtete und er mich musterte.

„Tut mir leid," murmelte ich und ich wusste nicht genau, ob das an Phoenix oder an das Tier gerichtet war.

TelepathyWhere stories live. Discover now