Kapitel 41

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Verrat und Argwohn lauscht in allen Ecken,
bis in das Innerste der Häuser dringen
die Boten der Gewalt.
- Johann Christoph Friedrich von Schiller -

In den nächsten Tagen ging ich Jai bewusst aus dem Weg. Und er mir auch, wie es schien. Ich traf ihn weder bei den drei Mahlzeiten, noch bei der morgendlichen Verkündung, bei der Odie ihn vertritt, noch beim Training.
Ich fand das unglaublich feige und es machte mich noch wütender auf ihn. Ich hatte Grund, sauer zu sein, nicht er. Er schuldete mir Antworten.

Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein, bis ich ihn eines Tages beim Abendessen wiedersah.
Ich wollte gerade aufstehen, um mein Geschirr abzugeben, als plötzlich jemand vor mir stand und ich gegen die Person rempelte.
„Oh, Entschuldigung," sagte ich prompt und sah auf.

Als ich in Jais goldene Augen sah, veränderte sich meine Laune sofort von mittelmäßig zu abgrundtief schlecht.

„Vorsicht," erwiderte er nur und schaute mich an.
Ich konnte nicht wegsehen, so verzaubert war ich von den Sprenkeln in seinen Augen, sodass ich auf einmal einen seiner Gedanken las:

Bitte. Renn nicht weg.

Wie könnte ich? Ich stand da, wie festgefroren, während er mich mit seinem Blick betäubte. Ich konnte nicht weggehen, selbst wenn ich es wollte. Und eigentlich wollte ich das ja, aber ich spürte, wie ich unter seinem Einfluss und seinem Blick weich wurde.

Irgendwann schaffte ich es, meine Augen von ihm zu lösen und räusperte mich.
„O, Reign, können wir gehen?," fragte ich beide und als ich sie ansah, starrten sie Jai und mich nur mit offenem Mund an.
Nervös schaute ich in der Menge umher. Anscheinend waren aber nur sie auf uns beide aufmerksam geworden.
„Leute?," fragte ich lauter und wie auf Kommando nickten beide, ohne jedoch zu antworten. Ich wollte mich an Jai vorbei drängen, als er mich am Arm sanft, aber bestimmt festhielt.

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, doch er sah mich wie immer ruhig an. „Komm in zwei Stunden in mein Zimmer," flüsterte er mir zu, dann ließ er mich wieder los und ging weiter. Ich rieb mir den Arm an der Stellte, wo er mich festgehalten hatte. Sie prickelte unangenehm.
Automatisch sah ich auf die Uhr, die über dem Eingang des Saals hing. Sieben Uhr. Um Neun sollte ich in sein Zimmer kommen.

Da fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, wo es sich überhaupt befand. Er hatte mal gesagt, dass es in einem der weiteren Stockwerke im Gebäude war, doch wo genau-keine Ahnung.

Ich wusste ja nicht mal, ob ich überhaupt hingehen würde. Wieso sollte ich? Ich war immer noch wütend auf ihn und dass er sich eben so komisch verhalten hatte, machte es nicht besser.
Ich nahm es mir trotzdem vor, es mir nochmal zu überlegen. Ich war neugierig. Was würde er mir sagen wollen? Außerdem ging nie jemand in sein Zimmer. Für Jai war das heiliges Terrain. Und was war, wenn das meine einzige Chance war, Antworten zu bekommen?
Das war das schlagende Argument. Vertraute ich Jai? Auf keinen Fall. Aber nur von ihm bekam ich das, was ich brauchte.
Ich würde hingehen.

Zwei Stunden lang schlug ich die Zeit tot, indem ich mit meinen Freunden vor dem Lager saß und in den Himmel starrte.
Doch die anderen merkten gar nicht, dass ich nicht bei der Sache war, als sie Scharade spielten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war es dann endlich zehn vor neun und ich verabschiedete mich mit der Ausrede, etwas beim Aufräumen in der Küche vergessen zu haben.
Harry, Leo und Reign waren so sehr damit beschäftigt, Olivias Pantomime zu erraten, die eindeutig Tanzen, allerdings eine wirklich schlechte Variante, war, dass sie gar nicht bemerkten, dass ich ging.

Ich ging die Treppe hoch und lief den Gang entlang in Richtung Zentrale, wo ich schließlich stehen blieb. Irgendwo hier musste es zu Jais Zimmer gehen, doch die Zentrale war der einzige Raum hier.
Ich suchte dennoch weiter und erkannte in der Wand links eine schmale Linie. Ich drückte dagegen und Tatsache, es war eine Tür, die sich öffnete und mir den Blick auf... nun ja, nichts, eröffnete.
Das einzige, was ich erkennen konnte in der Dunkelheit war ein schmaler Steg, der nur von einem klapprigen Gitter zu einer Seite umgeben war.

Obwohl mir bewusst wurde, wie dumm das war, warf ich trotzdem einen Blick auf den nicht existierenden Fußboden und bereute es sofort.
Es ging ungefähr zwanzig Meter nach unten und man konnte eindeutig die Umrisse des Lagers erkennen und dahinter die Decke, unter der sich die Schlafsäle befanden.

Nach einem tiefen Ein-und Ausatmen setzte ich schließlich einen Fuß auf die schmale Leiste.
Ein Knirschen ertönte und ich erwartete, dass ich gleich zusammen mit dem ganzen Gerüst in die Tiefe stürzte, doch nichts passierte.
Durfte es ja auch nicht, wie sonst sollte Jai jedes Mal zu seinem Zimmer und zurück kommen? Insofern sein Zimmer überhaupt da war, wo ich es vermutete... Wenn nicht, würde ich einen Besen fressen.

Schritt für Schritt setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf das knarzende Holz und nach einer Ewigkeit erreichte ich schließlich das andere Ende und stieß die kleine Tür in der Wand auf.
Dass mich dahinter ein riesiger Raum erwarten würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Die Freude darüber, dass ich diesen Weg ohne zu sterben gemeistert hatte, legte sich sofort wieder, als Jais Kopf um die Ecke kam.

„Du bist gekommen," sprach er das offensichtliche aus.

Ich antwortete nichts darauf. Was hätte ich auch sagen sollen?
Ich wartete auf eine Entschuldigung oder zumindest eine Erklärung für die Ereignisse vorhin, doch alles was er sagte, war: „Ich habe über einige Dinge, was die Mission angeht, nachgedacht und würde die gerne mit dir besprechen."

Ich konnte nicht anders, als die Augen, soweit es nur ging, zu verdrehen und laut zu stöhnen.

„Ist das dein Ernst?" Meine Stimme klang kalt. Vielleicht erkannte er ja jetzt, wie sauer ich war.

„Was?"

Tat er nur so verständnislos oder war er es wirklich?

„Ich dachte, ich bin wegen einer anderen Sache hier und nicht wegen der Mission oder unserer Recherche."
„Aber das ist doch wichtig..."
„Es interessiert mich nicht, verdammt nochmal!," schrie ich. „Was mich allerdings interessiert ist, warum eure Festplatten voll sind mit Fotos von mir, mit intimen Fotos, von denen ich nichts wusste und denen ich ganz bestimmt nicht zugestimmt habe."

Er sah mich nur an.

„Also sag mir: wer hat diese Fotos gemacht und zu welchem Zweck? Wenn du mir das beantwortest, höre ich mir gerne dieses Neuigkeit an."

Er sah mich einen sehr langen Moment schweigend an, seufzte dann und setzte sich auf die Bettkante, um seine Erklärung anzufangen.

„Du weißt, wie ich dir erzählt habe, dass wir immer wieder Leute an die Grenzen zu Houston schicken, um nach neuen Mutationen zu gucken?"
Ich nickte.
„Jedes Mal, wenn wir vermuten, jemanden gefunden zu haben, wird einer unserer Leute auf diese Person angesetzt, um sicherzugehen, dass derjenige auch tatsächlich im Besitz einer Kraft ist. Dazu gehört auch, dass wir Fotos machen und jeden Schritt verfolgen. Wenn wir uns dann sicher sind, dass die Person eine Mutation ist, müssen wir nämlich auch dafür Sorgen, dass sie es nicht weiter erzählt und sich und uns auch damit in Gefahr bringt."
„Okay, das verstehe ich, aber es war doch nicht nötig, dass ich beim umziehen und schwimmen fotografiert werde."
„Da ging es mehr darum, dass wir dein alltägliches Leben und so weiter erfassen, damit wir wissen, was du für ein Mensch bist."
„Dann könntet ihr die Bilder doch eigentlich löschen, sobald die Person im Lager ist."
„Normalerweise machen wir das ja auch. Wir erledigen das sofort nach der Ankunft einer Person im Lager, aber bei dir ist das alles irgendwie schief gelaufen und da haben wir es vergessen."
„So wie ihr mich in dem Kartoffelsack habt ersticken lassen?"
„Naja, du lebst ja noch."

Bei dieser Aussage musste ich erneut die Augen verdrehen.

„Okay, jetzt aber die wichtigste Frage: Wer war mein Spion und hat die Fotos von mir gemacht?"

Die Antwort traf mich bis ins Mark.

„Ich."

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