Kapitel 6

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If you cannot hold me in your arms, then hold my memory in high regard.
And if I cannot be in your life, then at least let me live in your heart.
- Ranata Suzuki -

Mittlerweile waren zwei Wochen vergangen, wir hatten April und Leo war noch immer verschwunden.

Meine Eltern waren seit dem Vorfall ungewöhnlich ruhig, sprühten nicht mehr so vor Motivation und Tüchtigkeit und schlurften durch das Haus, als wären sie Geister.

So sahen sie auch aus.
Ihre Haut war eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen und sie waren abgemagert.
Ich hatte meine Eltern noch nie als fröhlich bezeichnet, eher als perfekt trainierte Roboter, aber im Gegensatz zu jetzt waren sie vor Leonors Verschwinden das blühende Leben selbst gewesen.

Auch ich hatte mich äußerlich verändert, aber innen drin versuchte ich weiterhin stark zu sein.
Ich hoffte einfach immer noch, und glaubte auch fest daran, dass Leo wieder auftauchen würde. Im Gegensatz zu mir hatten meine Eltern die Hoffnung schon längst aufgegeben, wobei ich mir nicht sicher war, ob sie die je überhaupt gehabt hatten.

Nach weiteren zwei Wochen hatten sie sich wieder verändert und sahen jetzt schlimmer aus als je zuvor. Mittlerweile gingen sie nicht mal mehr zur Arbeit, sondern lagen den ganzen Tag nur herum und ich schmiss den kompletten Haushalt. Dass sie noch nicht gefeuert waren, wunderte mich, doch ich fragte sie nicht. Generell sprachen wir kaum noch ein Wort miteinander. Wir sagten uns Guten Morgen und Gute Nacht, aber das war es auch schon.

Nach einer weiteren Woche wachte ich eines Tages morgens auf und dachte, es würde ein ganz normaler Tag werden, doch als ich auf den Kalender sah, sackte mein Herz in die Hose.
Heute war mein Geburtstag und das bedeutete, dass es genau ein Jahr her war, seit ich meine Kraft besaß. Und dass Alec und ich seit einem Jahr und sechs Monaten getrennt waren. Der Gedanke versetzte mir einen Stich, doch ich schüttelte den Kopf und vertrieb die negativen Gedanken.

Mittelmäßig gut gelaunt ging ich die Treppe herunter und sah in die Küche.
Die Vorhänge waren zugezogen, der Tisch noch nicht gedeckt und auf einmal vernahm ich aus dem Schlafzimmer meiner Eltern auch ein leises Schnarchen. Und da fiel es mir auf: Sie hatten meinen Geburtstag vergessen.
Jetzt war aus dem Stich ein Kloß geworden, der sich in meinem Hals festsetzte und mich schlucken ließ.
In einer Mischung aus Enttäuschung und Wut stampfte ich die Treppe rauf und stieß die Tür zum Zimmer meiner Eltern auf.
Mit einem Ruck setzte sich meine Mutter auf.
„Quinn! Ist was passiert?," sagte sie.
Mittlerweile kochte ich vor Wut. Ich wusste, dass ich das eigentlich nicht tun sollte, dass ich nachsichtig sein sollte, wegen Leo. Aber mein Geburtstag war der einzige Tag im Jahr, an dem ich das Gefühl hatte, meinen Eltern wirklich etwas zu bedeuten. Und ich konnte mich einfach nicht zurückhalten.
„Sieh mal auf den Kalender. Habt ihr nicht etwas vergessen?," sagte ich wütend und rannte in mein Zimmer.
Ich hörte, wie meine Mutter etwas murmelte und meinen Vater weckte.
Schnell verschloss ich die Tür und zog mir ein paar Sachen an, während Mom an die Tür klopfte und meinen Namen rief.
Ohne hinzuhören öffnete ich das Fenster. Früher als ich klein war, bin ich ständig aus dem Fenster geklettert und weggelaufen. Das war schon lange her, doch ich hatte kein bisschen die Übung verloren. Mühelos kletterte ich den Baum herunter, der direkt neben meinem Fenster stand und kam sanft auf dem Gras auf. Dann stieg ich über den Zaun, der unser Grundstück umgab und lief los.

Ich wusste nicht, wohin ich ging, aber es tat gut, einfach nur zu laufen.
Missmutig trottete ich die Straße entlang, bis ich in einiger Entfernung mein Lieblings-Diner sah und darauf zusteuerte.
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich fast nicht das Rascheln im Gebüsch neben dem Weg bemerkte. Ich dachte erst, es wäre eine Person, doch dann sah ich einen Vogel, der nach Würmern pickte.
Ich zuckte mit den Schultern, ging weiter und drückte die Tür auf, die mit einem Klingeln aufschwang.
Die Bedienung am Tresen guckte auf und ich setzte mich auf einen Barhocker, ihr gegenüber.
„Kann ich dir was bringen?," fragte sie.
„Ja, einen Tee und Pancakes, bitte," erwiderte ich und sie nickte und verschwand in der Küche.
Immer noch schlecht gelaunt sah ich mich um. Im Diner waren nur wenige Leute, das Licht an der Decke flackerte und es roch nach altem Fett.

Früher, als ich mit Hazel und Val nach der Schule immer hier hin gekommen bin, war mir dieser Ort gemütlicher und schöner vorgekommen.
Jetzt erschien mir alles grauer und langsamer. Die blaue Farbe an der Wand schien ihre Kräftigkeit verloren zu haben, die Pancakes, die jetzt von mir auf dem Tresen standen, waren nur halb so fluffig, und der Tee war halb kalt und schmeckte verwässert.

Schnell trank ich diesen aus, aß meine Pfannkuchen, legte etwas Geld unter die Tasse und verließ das Diner.
Ich wusste nicht, wo ich jetzt hingehen sollte.
Ich wollte auf keinen Fall nach Hause, aber auch nicht wieder zurück ins Diner.
Generell hatte ich keine Ahnung, ob ich lieber alleine oder mit anderen zusammen sein wollte.

Ich beschloss, einfach spazieren zu gehen, doch ein erneutes Rascheln im Gebüsch hielt mich davon ab, weiterzulaufen. Das war definitiv kein Vogel, konnte ich nur denken. Plötzlich sah ich hinter der Hausecke eine Bewegung und hörte laute, schnelle Schritte.
Ich verfluchte meine Neugier, aber ich konnte nicht einfach weitergehen und so lief ich schnellen Schrittes in die Richtung, in der ich die Bewegung gesehen hatte.

Doch schon im nächsten Moment bereute ich es.

Sobald ich um die Ecke ging, spürte ich, wie mich jemand packte, umdrehte und mir ein ekelhaft riechendes Tuch vor Mund und Nase drückte.
Mir blieb nicht mal Zeit, zu schreien und mich zu wehren, weil im nächsten Augenblick die ganze Welt um mich herum in Schwarz versank.

TelepathyWhere stories live. Discover now