Kapitel 20

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Wer nicht in die Welt zu passen scheint, der ist immer nahe dran, sich selbst zu finden.
- Hermann Hesse -

Seit unserem Gespräch verbrachten Leo und ich viel mehr Zeit zusammen. Ich erzählte ihm Dinge über das Nahrungsbeschaffen und er zeigte mir Tricks beim Kämpfen und wie man mit Waffen richtig umging.

Wir ergänzten uns perfekt und jedes Mal, wenn wir zusammen waren, vergaß ich die Zeit. Eine Weile hatte ich fast jeden Tag, bis auf die üblichen Verpflichtungen und das Beschaffen von Wasser und Nahrung alle paar Tage, Freizeit und dementsprechend auch Zeit, die ich mit meinem Bruder verbringen konnte, bis uns Phoenix zusammentrommelte für eine größere Wanderung.

Zusammen mit Reign, Olivia, Jona und Jamie versammelte ich mich vor dem Tor und hörte auf Phoenix' Anweisungen.

„Heute werden wir ein bisschen was anderes machen," sagte er und schaute uns nacheinander in die Augen.
„Sammeln habt ihr ja alle mittlerweile gelernt. Heute werden wir uns dem Jagen zuwenden."

Mein Herz machte einen Hüpfer. Irgendwie hatte ich bis jetzt gehofft, nie die Erfahrung machen zu müssen, jemanden zu töten. Egal, ob Mensch oder Tier.
Zu meiner Überraschung wirkten die anderen in der Gruppe völlig entspannt. Jamie sah sogar erfreut aus.

„Doch bevor wir raus in die Wüste gehen können, müsst ihr erst ein paar grundlegende Dinge wissen. Und das wichtigste: ihr müsst kämpfen. Es geht nicht darum, dass ihr gegen ein Tier in den Schwertkampf geht..."
Die anderen lachten, ich blieb ernst und versuchte, ihm weiter zuzuhören.
„..., es geht darum, dass ihr euch verteidigen und blitzschnell töten könnt. Wir werden hier natürlich auch Vögel erledigen oder kleine Tiere, aber es gibt auch welche, die die Größe eines Bären haben, die Schnelligkeit eines Gepards und die Reißzähne eines Wolfes. Eine tödliche Kombination. Und gegen die müsst ihr überlegener, schlauer und bedrohlicher sein."

„Solche Tiere existieren?," rutschte es mir ungläubig raus, während mir ein Schauer über den Rücken lief. Das klang wie etwas, was einfach unbesiegbar war.

„Hier draußen schon," erwiderte Phoenix.
„Aber wo kriegen wir in Houston denn unser Fleisch her?," fragte Olivia. „Fleisch von solchen Tieren gibt es bei uns nicht."
„Die Menschen in der Stadt haben ihre einigen Rassen gezüchtet, bevor die Umweltkatastrophen die Natur verändert hat," erklärte Phoenix.
„Inwiefern?," fragte ich.
„Strahlung. Diese Tiere, die ich eben beschrieben habe, gab es so vorher nicht. Die Strahlung hat sie zu Mutationen werden lassen," sagte er.

Mutationen. Dieses Wort gab mir ein unangenehmes Gefühl im Magen. Waren wir etwa auch so etwas wie diese...Kreaturen? Waren auch wir verändert worden von der Strahlung und nichts anderes als, naja, Monster? Mussten wir deshalb hier draußen in der Wüste leben, neben Tieren, die quasi unseresgleichen waren, weil sich die Menschen vor uns fürchteten?

„Neben dem Jagen und Töten lernt ihr auch, wie man die Tiere richtig ausnimmt und haltbar macht. Ihr seid schließlich für unsere Nahrung hier verantwortlich," fuhr Phoenix fort. „Also, folgt mir. Als erstes gehen wir zum Zelt und ihr lernt das eben genannte."
Wir folgten ihm durch das geschäftige Treiben zu dem Zelt, in dem wir unsere Ausbildung begonnen hatten.

In der nächsten Stunde lernten wir, wie man einem Tier das Fell abzog, es ausnahm und säuberte. Außerdem brachte uns Phoenix bei, welche Arten in der Wüste und in unserer Umgebung überhaupt vorkamen und was die jeweiligen Gefahren dieser waren. Ob Giftstachel, riesige Klauen oder messerscharfe Zähne, es gab anscheinend alles, was man sich nur vorstellten konnte und Phoenix ließ nichts aus.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass wir alles verstanden haben, verließ er mit uns das Zelt und wir begaben uns zum Armee-Übungsgelände, wo die Waffen verstaut waren.
Er lief vor uns zu einem großen Zelt, das wir nacheinander betraten.

Innen blieb mir der Mund offen stehen.

Bis zur Decke stapelten sich die unterschiedlichsten Waffen.
Riesige, gezackte, sowie kleine, spitze Messer waren darunter, Pfeil und Bogen, Speere, Dolche, Pistolen, Gewehre und sogar etwas, das aussah wie Sprengstoff erkannte ich. Sofort fing wieder mein Herz an zu schlagen. Wenn ich wirklich diese Waffen benutzen musste, um ein Tier zu töten, dann würde ich das definitiv nicht schaffen.
Und wenn ich an die Beschreibung dachte, die uns Phoenix eben gegeben hatte, stellten sich mir wieder die Nackenhaare auf.

Letzterer riss mich aus meinen Gedanken.
„Denkt dran, wir machen das hier nicht zum Spaß. Und deshalb gibt's Regeln.
Ihr werdet keine dieser Waffen ohne meine Erlaubnis anfassen, geschweige denn benutzen. Und ihr übt nicht miteinander, sondern an Schießtafeln oder ähnlichem. Verstanden?"
Gehorsam nickten wir.
Wenn ich mir einen Schrank wie Jamie ansah, hatte ich auch nicht sonderlich Lust, mit den anderen zu kämpfen.

Phoenix ordnete an, dass wir uns alle in eine Reihe stellten und gab uns dann nacheinander unterschiedliche Waffen.
Olivia bekam zu meiner Überraschung einen großen Speer, von dem ich dachte, dass er sie herunterziehen würde, welchen sie aber erstaunlich fest im Griff hatte.
Jamie bekam eines der großen, gezackten Messer, das er grinsend von Hand zu Hand warf.
Nach einer Rüge von Phoenix hielt er es schließlich fest und verließ, immer noch grinsend, das Zelt.
Reign bekam eine Pistole, Jona ein Gewehr und ich ein kleines, merkwürdig geformtes Messer.
Die anderen sahen mich mitleidig an, doch ich war erleichtert. Vielleicht musste ich ja keine dieser Kreaturen, die Phoenix uns geschildert hat, erlegen, sondern nur ein Eichhörnchen oder so. Das war zwar immer noch nicht perfekt, aber schon mal besser als eine dieser Mutationen.

Nachdem wir unsere Waffen erhalten haben, gingen wir zurück zum Übungsplatz.

Doch bevor wir mit dem Training anfingen, gesellte sich ein Mann zu Phoenix.

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