Kapitel 40

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Love all, trust a few, do wrong to none.
- William Shakespeare -

Nach unserem Gespräch ging ich weiter zum Trainieren und danach in die Zentrale, um mir zusammen mit Jai nochmal alle Profile der Bewohner anzusehen.
Doch selbst nach ewigem Durchlesen kamen wir nicht weiter.

Es gab in den Profilen, ganz besonders bei den medizinischen Untersuchungen, keinen einzigen Hinweis dazu, was die Veränderung im Blut verursachte und warum jeder seine Kraft am fünfzehnten Geburtstag bekam.

„Was ist mit Strahlung?," warf ich in den Raum und drehte mich auf dem Schreibtischstuhl zu Jai um.
Er kaute auf seinem Kugelschreiber. „Möglich. Das würde aber nur die Mutation im Blut erklären, nicht aber das mit dem fünfzehnten Geburtstag. Schließlich hat ja jeder an einem anderen Tag Geburtstag."

Nickend stimmte ich ihm zu. „Und der Fakt, dass nur Jugendliche betroffen sind und keine Erwachsenen widerlegt das Ganze auch."
„Naja, zumindest keine von denen wir wissen."
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Glaub mir, meine Eltern könnten das niemals vor mir verheimlichen."

„Und wenn es eine hohe Strahlung gegeben hätte, hätten die uns das bestimmt gesagt," fügt Jai hinzu.
„Die?"
„Wissenschaftler, Politiker und so weiter."
„Okay, also fällt Strahlung weg. Was könnte es denn sonst sein?"
„Ich weiß es nicht."

Er starrte konzentriert auf den Bildschirm und ich ließ stöhnend meinen Kopf nach hinten fallen.

„Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen," schlug Jai vor und sah mich besorgt an.
„Nein," antwortete ich kopfschüttelnd. „Wir müssen das klären."
„Ja, aber nicht heute. Die richtigen Antworten werden wir eh erst bekommen, wenn wir die Razzia machen und das Blut untersuchen können."
Da hatte er Recht.
„Na gut," sagte ich und seufzte.

In den nächsten zwei Wochen trafen wir uns fast jeden Abend, um mögliche Theorien zu untersuchen. Doch absolut nichts brachte uns vorwärts.

„Okay, es hat keinen Sinn. Das ist zwecklos. Wir könnten so viel sinnvolleres mit unserer Zeit anfangen als hier vor den Bildschirmen zu hocken und uns die Köpfe zu zerbrechen," sagte Jai.
„Ja und so langsam hab ich auch echt keine Lust mehr. Das führt zu nichts als Kopfschmerzen," antwortete ich und rieb mir über die Stirn.
„Soll ich dir eine Limonade holen? Die trinkst du doch so gerne."
„Klar, danke."

Er wollte gerade gehen und sie holen, da drehte ich mich zu ihm um.

„Das habe ich dir nie erzählt."
„Was?" Er guckte verwirrt.
„Dass ich Limonade mag."
„Ja, aber jeder mag doch Limonade."
„Ja, aber du meintest: die trinkst du doch so gerne. Als wüsstest du, dass ganz besonders ich gerne Limonade trinke. Dabei habe ich dir das nie erzählt."

Er zuckte die Schultern, aber unter der Gleichgültigkeit erkannte ich einen Funken Nervosität.

„Dann habe ich es wohl irgendwo aufgeschnappt."
„Ich habe es aber noch nie jemandem hier erzählt."
Jetzt merkte ich, wie er genervt wurde.
„Quinn, es ist bloß Limonade. Willst du jetzt welche oder nicht?"
Mit der selben Gleichgültigkeit wie er zuckte auch ich die Schultern. „Okay."

Es war wahrscheinlich wieder nur meine Paranoia, andererseits hatte die damals, als ich entführt wurde, auch gestimmt.
Aber bei Jai war ich mir sicher, dass er mich nicht anlügen würde.

„Ich bin gleich wieder da," sagte er zu mir und ich nickte ihm kurz zu.
„Mach's dir solange gemütlich," sagte er und verließ die Zentrale.

Ich versuchte, die üblen Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Er hatte ja Recht, es war nur eine verdammte Limonade. Wieso musste ich eigentlich alles so analysieren?

Ich drehte mich wieder zum Schreibtisch und sah mir die Bilder an, die jemand in das Holz geritzt hatte. Eine Wiese mit Tieren, ein Luftballon,... Kinderbilder.
Auf einmal stieß ich gegen die Maus des Computers rechts von mir, den ich nicht benutzen dufte, weil er laut Jai zu viel sensible Informationen enthielt, und der Bildschirm ging flackernd an. Kurz sah ich hin, dann schaute ich wieder weg.

Doch dann zog etwas meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Bild.

Erst sah ich nur Umrisse. Gras, ein Mensch, blauer Himmel. Dann klickte ich auf Vergrößern.
Ich zuckte zurück, als hätte ich mir die Hand an der Maus verbrannt.

Der Mensch auf dem Bild war ich.

Auf dem Bild saß auf meinem Fahrrad und fuhr den River entlang. Ich sah ernst aus.
Ich erinnerte mich an den Tag. Es war mein fünfzehnter Geburtstag, als ich zu Alec fuhr, um ihn zur Rede zu stellen.

Rechts unten in der Ecke des Bildschirms sah ich Alles anzeigen und klickte darauf.

Ich fühlte, wie mir jegliche Farbe aus dem Gesicht wich.
Da war nicht nur ein Bild, sondern unendlich viele. Unendlich viele Fotos, auf denen ich zu sehen war.
Ich klickte auf ein anderes Symbol und plötzlich gingen um mich herum in der Zentrale alle Bildschirme an; die Fotos waren überall zu sehen.

Mir wurde schwindelig.

Doch dann kniff ich die Augen zusammen und sah mir die Bilder genauer an.
Da war ich auf meinem Fahrrad, ich beim Lachen mit Hazel und Val, ich beim Baden im Meer, ich beim Reden mit Violet vor meiner Haustür an meinem Geburtstag.

Ich hatte das Gefühl, dass jegliches Leben aus mir strömte, während ich diese Fotos betrachtete.
Wer hatte die  gemacht? Wieso war da immer nur ich drauf?

Mein Kopf fühlte sich unendlich leer an und genauso mein Körper und ich konnte nichts weiter tun, als da in der Mitte des Raumes zu stehen und die Bildschirme anzustarren.
In dem Moment hörte ich, wie Jai wieder die Treppe hochkam und dann den Raum betritt.
„Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat, ich...," sagte er, dann brach seine Stimme ab.

Langsam drehte ich mich zu ihm um. Er stand da, mit bleichem Gesicht und aufgerissenen Augen und starrte abwechselnd mich und die Bildschirme an.

„Was ist das?," fragte ich und meine Stimme klang merkwürdig. Hohl und fremd.
„Das...," begann er, dann sagte er nichts mehr und starrte mich wieder nur an.
„Ist die Frage so schwer?," fragte ich, jetzt lauter. „Was zum Teufel ist das? Was sind das für Fotos? Wer hat die gemacht?"
Meine Hand zitterte, als ich sie auf ein Foto legte, wo ich mich gerade am Strand umzog.

Ich erinnerte mich daran. Ich hatte den Fotograf hinter einer Düne gesehen, als ich aus dem Meer kam und mich umzog. Es war der Tag von Leos Geburtstag gewesen.

„Kannst du mir das erklären?," rief ich laut und Jai zuckte zusammen.
Er erwiderte nichts, sondern drängte sich nur mit leisem Fluchen an mir vorbei und drückte irgendeine Taste. Sofort gingen alle Bildschirme aus.
„Das macht es nicht besser," sagte ich kopfschüttelnd, doch er sah mich nicht an. Er stand mit dem Rücken zu mir auf den Schreibtisch gelernt.
Diese Haltung und dass er einfach nichts sagte, machten mich unendlich wütend.
„Jai," brüllte ich jetzt und ich sah, wie er zusammen zuckte. „Rede mit mir! Was ist das?" Ich hatte gedacht oder gehofft, dass er etwas sagte, doch er blieb still und ich sah nur sein ruhiges Atmen.

Wie immer machten mich seine Ruhe und sein Stolz wahnsinnig.

„Ich wusste es," sagte ich verächtlich und spuckte ihm die Worte nur so entgegen. „Du bist in Wahrheit gar kein so harter Typ. Du bist ein genauso feiges Arschloch wie jeder andere Kerl auch."
Dann kehrte ich ihm den Rücken zu und verließ stürmisch die Zentrale.

Ich rannte fast.
Einerseits, weil ich so wütend war, andererseits weil er die Tränen nicht sehen sollte, die mir in die Augen schossen.
Hinter mir hörte ich, wie Jai gegen irgendetwas trat und Worte rief. Während ich lief, hielt ich mir die Ohren zu.
Ich wollte ihn nicht hören, ich wollte ihn nicht sehen.
Ich wusste nicht, was ich wollte. Bloß weg von hier.
Mit einem Ruck riss ich die Tür zum Schlafsaal auf und rannte zu meinem Bett, wo ich mich drauf fallen ließ.

Ich schien einfach immer wieder enttäuscht zu werden. Erst von Alec, jetzt von Jai. Was hatte ich bloß an mir, dass mich alle so gerne anlogen?

TelepathyWhere stories live. Discover now