Kapitel 5

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Absence from whom we love is worse than death and frustrates hope severer than despair.
- William Cowper -

Am nächsten Morgen wachte ich mit höllischen, aber vertrauten Kopfschmerzen auf und hob den Kopf, als ich von unten laute Stimmen hörte.

Ich zog mich an und lief dann zur Treppe.
Dort blieb ich wie angewurzelt stehen.

Denn in unserem Eingang standen zwei Polizisten und meine Eltern, die kreidebleiche Gesichter hatten.
Als ich herunter kam, sahen alle auf einmal zu mir.

„Was ist passiert?," fragte ich.
Bei meiner Frage wurde meine Mutter noch weißer und vergrub ihr Gesicht an der Schulter meines Vaters.
„Quinn Roberts?," fragte mich einer der Polizisten, ein großer Mann mit Dreadlocks. Er sah nicht wirklich wie ein Polizist aus.
Auf die Frage hin nickte ich.
„Ihr Bruder Leonor ist seit heute morgen verschwunden."
Mit erstarrtem Gesicht schaute ich ihn an. „Was?," flüsterte ich. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.
„Er verließ laut Ihren Eltern heute morgen um sieben das Haus und kehrte nicht mehr zurück."
„Kann er nicht einfach einen Freund besucht haben?," fragte ich zaghaft und merkte dann selbst, wie unlogisch das klang.
„Das wäre natürlich eine Möglichkeit, aber er hat sich seit heute morgen nicht gemeldet und auch nichts in die Richtung angekündigt. Dementsprechend ist diese Möglichkeit eher unwahrscheinlich," wiederholte der Polizist meine Gedanken. „Ihre Eltern erzählten mir bereits, dass Ihr Bruder nie geht, ohne sich abzumelden.
Meine Mutter löste sich schniefend von meinem Vater und sagte: „Wir haben schon jeden seiner Freunde angerufen und bei keinem ist er gewesen."
„Wir können im Moment auch nicht wirklich etwas tun. Erst wenn er nach vierundzwanzig Stunden noch nicht wieder aufgetaucht ist, können wir ihn offiziell als vermisst melden," sagte der andere Polizist, der mir bisher noch gar nicht wirklich aufgefallen war.
Er war klein und zierlich, hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck und rote Haare. Die breite Uniform schlackerte ein wenig an ihm und er sah ziemlich verloren darin aus. Auch er wirkte wenig wie ein Polizist.

Meine Mutter wimmerte bei seinen Worten und auch ich musste mich zusammen reißen. Normalerweise war ich sehr gefasst in solchen Situationen, ich weinte nie.
Doch wenn es um meinen Bruder ging, war das etwas anderes. Außerdem war ich seit gestern noch besorgter um ihn als sonst.
„Wir werden trotzdem nach ihm suchen und Sie auf dem Laufenden halten," sagte der Dreadlocks-Typ und sah seinen Kollegen streng an. Dieser schaute nur noch grimmiger und ich befürchtete schon, gleich würde Dampf aus seinen Ohren kommen.
Meine Eltern nickten wild und schüttelten den beiden die Hände, bevor sie sie verabschiedeten und die Tür schlossen.

Sofort nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, brach meine Mutter in Tränen aus und warf sich meinem Vater in die Arme.
Ich stand nur daneben und starrte beide an. Ich hatte meine Eltern noch nie so erlebt. Für gewöhnlich waren sie sehr beherrscht und zeigten kaum negative Emotionen.

„Mom, er wird schon wieder auftauchen," sagte ich, doch eigentlich glaubte ich mir selbst nicht.
Sie schaute mich an und schniefte. „Ja, wahrscheinlich." Auch sie klang sehr unglaubwürdig.
Auf einmal fühlte ich mich, als ob ein riesiger Stein auf meinem Brustkorb lag und mir die Luft zum Atmen nahm. Ich musste hier raus, an die frische Luft.
„Ich...," fing ich an, doch dann versagte meine Stimme, weil mir die Tränen in die Augen schossen. Fluchtartig riss ich die Tür auf und rannte raus, ohne sie zu schließen.
Hinter mir hörte ich meine Eltern rufen, doch ich drehte mich nicht um. Rannte einfach weiter.

Ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war, klingelte ich schließlich bei Hazel und als sie mir die Tür öffnete, fiel ich ihr um den Hals und erzählte ihr alles.
Sie bot sofort ihre Hilfe an und hatte innerhalb weniger Stunden sämtliche Freunde, darunter auch Val und Jade, sowie Bekannte und Familie zusammengetrommelt, die uns halfen, zu suchen und die vierundzwanzig Stunden abzuwarten.

Doch Leo blieb verschwunden.

Als er nach Ablauf der Zeit offiziell als vermisst gemeldet wurde, gab es Durchsagen durch Megafone, Hausdurchsuchungen und Uniformierte, die das gesamte Stadtgebiet durchkämmten; doch nirgends tauchte er auf.

Nicht mal Spuren fanden sie.

Es war, als hätte der Erdboden ihn einfach verschluckt.

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