Kapitel 4

14.6K 1.2K 61
                                    

Ich drehe den Kopf und stelle mit dem aufkommenden Gefühl des Glücks fest, dass zwei etwa gleichaltrige Jungs zur Hilfe in die kleine, dunkle Gasse geeilt kommen.
Die Klinge des Messers blinkt kurz auf als der Dieb sich aus dem Staub machen will, doch einer der Beiden bringt ihn mit einem Zauber zum Stehen, ehe er es auch nur einen Meter weit geschafft hat.

Der größere der Jungs kümmert sich um den Mann, während der andere mit den Andeutungen eines Lächelns auf mich hinab blickt, was ihn dadurch jedoch nicht arrogant wirken lässt.
Erst jetzt wird mir richtig bewusst, dass ich hier auf dem dreckigen, nassen Boden liege, unfähig mich zu bewegen, da meine rechte Seite so quälend schmerzt.
"Komm." Er hebt mir seine Hand helfend hin. Zwei Mal lasse ich mir das nicht sagen und ergreife die dargebotene Hand.

Ich überspiele die Schmerzen, indem ich eine Hand in die Seite stütze, mich gegen eine Hauswand lehne und nach Luft schnappe, wobei ich ganz langsam meinen Blick hebe und als erstes merke, dass beide Jungs einen ganzen Kopf größer sind als ich.
So wie sie vor mir stehen, flößen sie mir doch ein wenig Angst ein, doch ich schiebe es auf den Schock, welcher mir noch tief in den Knochen sitzt. Die Schmerzen werden mich noch tagelang an diesen Überfall erinnern, doch die Erinnerung wird länger haften. Nie wieder werde ich nachts ganz alleine unterwegs sein, deren bin ich mir sicher.

Ein Räuspern holt mich aus meinen Gedanken und erinnert mich, dass ich meinen Rettern noch ein "Danke" schuldig bin. Zögernd hebe ich den Kopf, blicke ihnen einzeln in die Augen und verharre bei diesen unverwechselbaren smaragdgrünen Augen, die mir heute schon einmal begegnet sind. Knapp wandern meine Augen über ihn, während ich feststelle, dass es genau der Typ aus der Schule der Normalen ist.

"Ähm.", sage ich und greife nach meiner Tasche, die mir der andere hin hebt. Ich kenne genügend Reiche, die ohne auch nur ein Wort des Dankes auf dem Absatz kehrt gemacht hätten, denn es wäre ihnen viel zu erniedrigend und beinahe gedemütigt vorkommen, sich bei Normalen zu bedanken. Es wäre ihrer Meinung nach selbstverständlich in das Geschehen einzugreifen ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Wie ich das hasse.  "Vielen Dank."

Während der Grünäugige sich keine Mühe gibt, seine Überraschung zu verstecken, ergreift der andere das Wort.
"Nichts zu danken. Wer wäre denn hier nicht eingeschritten?"
"Oh, ich kenne da einige.", sage ich und könnte mindestens zehn Namen aufzählen. Bei dem Gedanken, dass es alles jedoch nur Reiche sind, wird mir doch etwas unwohl in meiner Haut. Wer hätte gedacht, dass solch ein Kontakt mit Normalen Zweifel an der angeblich perfekten obersten Schicht unserer Gesellschaft in mir erweckt?
Nervös streiche ich mir eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr als ich mir der peinlichen Situation bewusst werde und verspüre den Drang dazu dem hier zu entfliehen, denn die Blicke der beiden Jungs zeigen mir nur zu deutlich, dass ihnen klar ist, dass wir Reiche nur hochnäsige Leute sind. Die noch nicht einmal wissen, wo Blätter hin gefegt werden. Unsicher stoße ich mich von der Wand ab, bemerke doch schnell, dass meine Beine einem Wackelpudding gleichen und unter mir nur nachgeben wollen.

Bevor ich erneut auf dem Boden lande, umschließt mich ein kräftiger Arm an meinem Bauch und verhindert einen weiteren Sturz.
Ehe ich mich versehen habe, lehne ich mit dem Rücken an einem der beiden Jungs und werde durch den Arm dort festgehalten. Ich erwarte in Panik auszubrechen, doch diese Nähe versprüht merkwürdigerweise nicht Hass, Abneigung oder sonstig negative, gewohnte Gefühle.

Seine Körperwärme färbt auf mich ab und verringert mein Zittern im Regen. Wie eine Decke schützt er mich vor Kälte und Nässe.
"Miss Reich kann anscheinend keinen einzigen Schritt laufen, ohne ... "
"Miss Reich hat auch einen anderen Namen.", unterbreche ich ihn, kann die aufsteigende Wut in mir nicht ignorieren. Warum ich so gereizt bin ist mir nicht bewusst. Vielleicht liegt es daran, dass ich realisieren musste, dass ich zu der Schicht gehöre, die wohl nicht so wundervoll und makellos ist wie ich immer angenommen hatte.

Der mir fremde Junge gibt ein Lachen von sich, so tief, dass es mir vorkommt, der Boden würde darunter vibrieren wie bei einem Bass.
"Und Manieren hat Miss Reich anscheinend auch nicht. Sogar ich habe gelernt, dass man den anderen ausreden lässt.", sagt er wieder direkt neben meinem rechten Ohr. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Oh Mist, ich stelle uns Reiche nur noch mehr bloß. Korrektes Benehmen, darunter zählt definitiv nicht so gereizt zu sein, dass man dem anderen das Wort gnadenlos abschneidet, war das Erste, was mir beigebracht wurde. Pünktlichkeit ist auch sehr bedeutend, aber zurzeit scheine ich meine rebellische Phase zu haben.
"Gegen deinen richtigen Namen hätte ich natürlich nichts.", fügt er noch leise hinzu.

"Träum weiter.", sage ich mit fester Stimme und spüre, wie er einmal tief einatmet. "Aber ich hätte nichts dagegen, wenn du mich loslässt."
"Nur für deinen Namen.", gibt er als Antwort. Nach einem wirkungslosen Versuch mich aus dem Griff zu befreien, muss ich einsehen, dass ich keinerlei Chance habe. Welch ein Erpresser!

Ich zucke kurz erschrocken zusammen, als das Klingeln eines Handys durch die winzige Gasse hallt, so hoch und laut, dass es wohl die ganze Stadt wecken könnte. Leider liegt das Pech wieder ganz auf meiner Seite - der andere Junge beginnt ein Telefonat.

"Und?", lenkt der Grünäugige wieder meine Aufmerksamkeit auf sich.
"Megan.", bringe ich über die Lippen, schlucke die Lüge herunter. Ich hasse es. Ich hasse lügen und doch sträubt sich alles in mir dagegen, ihm meinen wahren Namen zu verraten.
"Du lügst", sagt der Junge und kommt meinem Ohr näher. Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut, dann bildet sich dort eine Gänsehaut.
"Na und?"
"Manieren hast du echt nicht." Eigentlich schon, doch gerade scheine ich sie alle nicht zu kennen.
"Bestimmt mehr als du." Es klingt bissiger als ich beabsichtigt hatte.
"Tisch mir einfach keine falschen Namen auf."
"Und was willst du mit meinem richtigen Namen?", frage ich und will einfach nur noch von ihm los. Was er sich erhofft, wenn er denn tatsächlich meinen Namen weiß ist mir eh ein Rätsel. Die Absicht ihm erneut über den Weg zu laufen habe ich nicht im Geringsten.

"Ich will dich nicht mehr 'Miss Reich' nennen."
"Wir werden uns wahrscheinlich und hoffentlich nie wieder sehen.", sage ich.
"Also?", fragt er und ignoriert vollkommen, was ich von mir gegeben habe.

Ich senke den Kopf. Ein Name, es ist nur ein Name, rede ich mir ein. Warum mache ich solch ein Theater daraus? "Grace."
Lange bewegt er den Arm nicht und ich will ihn gerade daran erinnern, dass er doch alles hat, was er wissen wollte, dann lässt er ihn einfach sinken. Eilig stolpere ich eine Schritte nach vorne und ziehe meine Jacke enger um mich. Irgendwie fehlt mir seine Körperwärme jetzt doch.
"War das so schwer?", fragt er mich. Seinem bohrenden Blick ausweichend schweige ich.

"Wie gehts dir?", fragt er und ich brauche ein paar Sekunden, bis ich diese überraschende Frage verstehe.

"Besser." Es klingt wie eine Lüge, doch er merkt, dass mir das Ganze unangenehm ist und geht nicht weiter darauf ein. Stattdessen folgt nur ein wortloses Nicken seinerseits.

Ich drehe mich zum Gehen um, da das sich wohl endgültig geklärt hat.
"Bis morgen", sagt der Typ und ich bin mir sicher, dass er mal wieder lächelt. "Ach nein. Es ist ja schon 0 Uhr 20. Also bis nachher."
Ich laufe los, überlege mir, ob ich vortäuschen soll, ihn nicht gehört zu haben.
"Na hoffentlich bleibt er mir erspart", murmele ich vor mich hin, doch durch sein Lachen bin ich mir sicher, dass er mich gehört hat.
" 'Er' hat auch einen Namen."

Mit Schwung drehe ich mich um, will ihm das Grinsen nun nehmen, denn anscheinend wartet er nur darauf, dass ich genauso gierig auf seinen Namen werde.
"Interessiert mich nicht", sage ich, setze mein süßestes Lächeln auf und zucke desinteressiert die Schultern. Ob er noch etwas sagt bekomme ich nicht mehr mit, denn ich bin schon längst um die Ecke gebogen, auf direktem Weg nach Hause.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now