Kapitel 42

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"Verdammt! Kann denn das so schwer sein?", höre ich eine tiefe Männerstimme laut brüllen und dann ertönt ein leises Wimmern.
"Ich gebe doch mein bestes", murmelt eine junge Frauenstimme.
"Wenn du dich nicht beeilst, bringe ich dich in die Folterkammer, damit das klar ist", brüllt der Mann wieder.
Ich spüre, wie jemand zitternd nach meinem Arm greift und sofort durchfluten warme, angenehme Ströme meinen Körper.
Vorsichtig öffne ich die Augen und was ich sehe lässt mich echt sprachlos werden.
Vor mir steht ein etwa elfjähriges Mädchen, die auch nach meinem Arm gegriffen hat und weint lautlos. Wahrscheinlich vor Angst, aber mir wäre auch unwohl, wenn hinter mir ein Kerl stehen würde, der doppelt so groß ist wie ich, einen Blick aufgesetzt hat, bei dem man meinen könnte, dass man sein Nachtisch heute ist und dann dazu auch noch aussieht, als wäre er gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen. Ach und ganz nebenbei droht er einem noch mit einer Folterkammer. Mir tut das kleine Mädchen unglaublich leid.
"Na geht doch!", sagt er der große Typ, packt das Mädchen an den Haaren und zieht sie von mir weg.
Er schließt eine Tür, bestehend aus Gitterstäben auf und auch gleich hinter den beiden wieder ab.
Dann dreht er sich zu mir um und grinst mich an.
"Sei froh, solange dich noch keiner holen kommt."
Mit lauten Schritten verschwindet er in der Dunkelheit und zieht das Mädchen hinter sich her.

Seine Worte lösen zwar mehr Fragen bei mir aus, als sie beantworten, aber egal. Der wollte mir vielleicht auch bloß Angst machen.
Ich schaue mich in dem Raum um, aber wirklich viel kann ich nicht erkennen.
Ein kleines Fenster durch das die Sonne scheint, ist das einzige Licht, dass es hier gibt.
Der Raum in dem ich sitze, aber nicht auf einem Stuhl, sondern auf dem kalten Steinboden besteht aus drei Wänden und die letzte Seite des Raums aus Gitterstäben und der Tür.
Wie eine Zelle. Ich schlucke. Es ist eine Zelle.
Ich stehe auf, aber sofort klirrt etwas Metallisches gegen den Steinboden.
Ich schaue an mir runter und sehe eine riesige Fessel an meinem linken Fuß.
Ich ziehe daran wie verrückt, aber außer, dass es meinem Fuß wehtut, passiert nichts.
Ich laufe so weit, wie ich mit der Fessel am Fuß komme, aber die Gitterstäbe erreiche ich nicht.
Fluchend setze ich mich auf den Boden und fange an zu überlegen.
Ich bin hierher gekommen, weil Liam mir ein Messer in den Hals gesteckt hat, das weiß ich noch. Gehört er hier irgendwie dazu? Ich stütze meinen Kopf in die Hände und schließe die Augen.
Das Mädchen hat meine Verletzung geheilt, da ich nur noch einen kleinen Strich spüre, wenn ich mit dem Finger über Liams Einstichstelle fahre, aber gar keinen Schmerz mehr.
Und sie wurde dazu gezwungen.
Müde lehne ich mich gegen die kalte Wand und versuche herauszufinden, ob ich gerade irgendwo mitten auf dem Land bin und das Wasser weit weg ist und das geht ja ganz einfach, indem ich versuche, eine Verbindung zum Wasser des Meeres herzustellen.
Nach mehreren Sekunden packt mich eine enorme Kraft und ich schnelle zum Fenster. Ich bin in einer Zelle direkt am Meer, das ist mir jetzt klar, aber wo?
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue aus dem Fenster.
Zuerst sehe ich nur Sand. Schönen hellgelben Sand, der von ein bisschen Wind immer wieder aufgewirbelt wird. Hinter dem Sand kann ich eine schmale blaue Linie erkennen und vermute, dass es das Meer ist, aber da ich nur ein kleines weniger höher als der Sand bin, kann ich es nur schwer erkennen.

Langsam löse ich mich wieder vom Fenster und versuche noch einmal die Fessel an meinem Fuß zu lösen.
Ich zerre daran bis meine Hand blutet, weil ich abgerutscht bin und meine Hand aufgerissen habe. Ich drücke die Lippen aufeinander, damit ich nicht schreie und presse mein T-Shirt darauf, damit ich nicht so viel Blut verliere.
Ich will mich gerade hinlegen, als ich Schritte höre.
Schnelle Schritte kommen näher und geben auf dem Boden ein dumpfes Geräusch von sich.
Erst glaube ich, dass die Person zu mir will, aber dann läuft die Person an der Zelle vorbei. Einen Meter, bevor ich die Person nicht meher sehen kann, dreht sie den Kopf zu mir und grüne Augen schauen mich an.
"Liam!", schreie ich und stürze auf die Gitterstäbe zu.
Doch Liam läuft ohne zu zögern weiter.
"Liam! Bleib stehen!"
Die Schritte entfernen sich.
"Liam, du scheiß Kerl! Komm zurück!"
Nur noch leise höre ich die Schritte und dann wird quietschend eine Tür aufgemacht.
"Ich hasse dich!", schreie ich und weiß, dass Liam mich hört, aber als die Tür zuknallt, ist Liam weg. Er hat sich nie für mich interessiert. Ich bin nichts für ihn. Und ich habe mich in ihn verliebt!
Kopfschüttelnd setze ich mich auf den Boden und lehne mich gegen die Wand.
Ich habe mich einfach in ihn verliebt, obwohl ich doch weiß, dass ich das eigentlich nicht sollte und er hatte nichts bessers im Kopf, als mir ein Messer in den Hals zu stecken und mich irgendwohin zu verschleppen! Gut gemacht! Ich scheine Probleme regelrecht anzuziehen.
Lange warte ich darauf, dass jemand vorbeikommt, aber ich sitze ganz alleine in einer Zelle und warte...ja, auf was warte ich denn? Der Typ hat gesagt, dass ich froh sein sollte, wenn ich noch nicht geholt werde. Vielleicht ist etwas Wahres daran.
Gelangweilt schließe ich die Augen und schlafe ein.

"Man! Das geht auch netter!", faucht eine Mädchenstimme, aber nicht die von dem kleinen Mädchen, das mich geheilt hat.
Ich höre eine Tür quietschen und bin mit einem Ruck hellwach.
Sofort springe ich auf die Beine und schaue mich in meiner Zelle um, aber hier ist niemand. Also laufe ich so nah wie ich komme an die Gitterstäbe und erstarre.
Ein Mädchen, vielleicht drei Jahre älter wie ich, wird grob an eine Fessel in der Zelle mir gegenüber festgemacht. Das wäre ja nicht so schlimm, wenn ihr Körper nicht von vielen blutenden Wunden überzogen wäre.
Selbst im Gesicht, zugegeben sie hat ein wunderschönes Gesicht, sind drei große Wunden. Aus der an der Stirn fließt sogar noch Blut.
Der Mann, der sie angekettet hat, verlässt die Zelle, schließt ab und verschwindet wortlos. Das Mädchen zieht einmal wütend an ihrer Fußfessel, bevor sie sich auf den Boden setzt.
Dann blickt sie auf und schaut mir direkt in die Augen.
"Was? Wird dir früher oder später auch noch so angetan", sagt sie und ihre Stimme besteht aus purem Hass.
Ich verziehe das Gesicht.
"Ich verstehe nichts", gebe ich zu. "Ich weiß nicht mal, wieso ich hier bin."
Das Mädchen zuckt die Schultern und setzt sich näher zu mir, aber wirklich weit kommt sie nicht.
"Hör mir zu, Mädchen. Wenn du eine Chance hast zu flüchten, dann tu es. Sonst wirst du sterben."
Das Mädchen zieht noch einmal an der Fessel.
"Ich hatte meine Chance und bin nicht gegangen. Und morgen werde ich sterben."

Ich schlucke. Könnte ich so über meinen Tod reden?
"Wieso bin ich hier?", frage ich und das Mädchen stöhnt.
"Damit du stirbst. Na gut das wird dir jetzt gar nichts sagen, also erkläre ich es dir."
Sie holt kurz Luft und ich setze mich auf den Boden.
"Die Wachen verschwinden hierher. Wir sind hier nicht mehr auf dem Kontinent sondern auf einer kleinen Insel mitten im Meer. Und jetzt kommt das, das mich immer an ein Märchen erinnert, nur das das Märchen für mich mit dem Tod endet. Der Chef hier nennt sich selber der 'Böse'. Ich sage dir eins, fange bloß nicht an zu lachen, wenn du vor ihm stehst. Dann landest du in der Folterkammer. Ziemlich unschön, ich habe Erfahrung damit. Na gut, aber was interessiert es dich, wenn ich von mir erzähle? Morgen bin ich eh tot, also total unwichtig."
Das Mädchen lacht trocken.
"Kennst du den Kreis der zehn Gaben? Ich besitze die neunte Gabe, du vermutlich die zehnte. Wirst du aber auch noch gesagt bekommen. Mit den Gaben will der Böse Onaria ganz einnehmen. Ich hasse solche machtsüchtigen Typen! Also tötet er dich, damit er an deine Gabe kommt. Und die Wachen verschwinden, weil die sechste Gabe einem Wachen gehört und er nicht wusste, welcher genau. Deshalb sind jetzt Hunderte gestorben und heute Morgen der Richtige. Das heißt also, das keine Wachen mehr verschwinden werden."
Hunderte waren gestorben, weil der 'Böse' nicht wusste, wer die sechste Gabe hat?
"Du wurdest trainiert, stimmts? Jemand hat dir 'geholfen' deine Gabe zu traineren, aber in Wirklichkeit arbeitet dieser jemand für den 'Bösen'. Am Stärksten sind die Gaben, wenn man sie gut trainiert hat. Der 'Böse' will sich natürlich nicht die Mühe machen die Gaben zu trainieren und lässt sie von seinen' Untertanen' verstärken und dann bringt er uns um und vervollständigt den Kreis der zehn Gaben, damit er Onaria unter seine Macht bringen kann.
Acht Gaben hat er schon. Es fehlen nur noch du und ich. Zwei Tote. Ich sag dir eins, flüchte und tauche unter. Anderer Name, anderes Aussehen, andere Freunde. Du musst alles verändern. Sie werden dich verfolgen, glaub mir. Mein Tod ist schon sicher, aber du, du kannst ganz Onaria retten. Sag mir eins, Mädchen, flüchte und sag mir, dass mein Tod der letzte war."

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now