Kapitel 41

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"Na gut. Wirklich begeistert bin ich nicht von deiner Idee, aber es ist die einzige Möglichkeit", stimmt Liam mir zu, nachdem ich ihm von meiner total verrückten Idee erzählt habe.
Ich trete in das Wasser und es ist eisig kalt.
Sofort fange ich an zu zittern, greife nach Liams warmer Hand und ziehe ihn auch ins Wasser.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich, so wie ich es heute schon den ganzen Tag gemacht habe.
Als sich das Wasser regelrecht mit mir verbunden hat, überlege ich mir einen guten kurzen Befehl.
'Ich muss jetzt mehrere Minuten in dir bleiben und du schaust, dass ich nicht an Sauerstoffmangel sterbe, okay?' erscheint mir etwas zu lang.
Aber so eine Luftblase, in der wir beide dann sind wäre doch genial.
'Luftblase um uns beide!' befehle ich dem Wasser und weil ich keine Veränderung sehen kann, laufe ich in das Wasser, bis es mir an meinen Fingerspitzen steht, wenn ich die Arme ganz normal an der Seite angelegt habe. Es ist so eiskalt, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich nicht gleich erstarre.
Okay, Augen zu und durch!
Ich zähle in Gedanken auf drei, dann tauche ich ohne zu zögern unter und reiße Liam ohne Vorwarnung mit mir.
Das Wasser ist so dunkel, dass ich nichts sehen kann und die Kälte droht mich umzubringen. Natürlich müsste ich an einem Herzinfarkt sterben, aber ich glaube, dass diese Kälte das auch noch schafft, mir einen Herzinfarkt zu besorgen.
'Ich will etwas sehen!', spreche ich zu dem Wasser und auf einmal leuchtet es hellblau um mich und Liam herum auf. Aber dahinter ist alles ganz normal. Es ist, als würde ein Sonnenstrahl nur zu uns dringen.
Ich schaue nach oben und sehe, dass das Wasser über uns auch noch ganz normal ist.
Dazwischen ein kleiner feiner Umriss.
Langsam fahre ich mit den Fingerspitzen an dem Umriss entlang und stelle fest, dass es die Hülle ist, die Wasser abhält.
Nur ein wenig Wasser ist bei uns, aber das liegt vermutlich daran, dass meine Gabe noch nicht so stark ist und ich noch mehr trainieren muss, damit auch kein einziger Wassertropfen mehr hier drinnen ist.
Ich habe eine Luftblase magischerweise erstehen lassen.
Aber das hält die eiskalten Temperaturen natürlich nicht ab.
'Jetzt noch wärmer.', bitte ich das Wasser und ganz langsam wird es wärmer.
Ich löse meine Hand aus Liams und betrachte fasziniert mein Werk.
Ich kann gar nicht glauben, dass ich das geschafft habe. Ich habe durch drei Befehle so etwas Tolles erschaffen!
Ich schaue zu Liam, der mit seiner rechten Hand an dem Rand der Hülle herumfährt und dann zu mir schaut.
Okay, theoretisch müssten wir hier auch sprechen können. Einen Versuch ist es wert, immerhin können wir hier auch ganz normal atmen.
"Wow", ist alles, was ich sage und Liam grinst.
"Das sollte ich wohl sagen. Für die erste richtige Anwendung deiner Gabe absolut perfekt."
Er zeigt auf das Wasser zu unseren Füßen.
"Daran können wir noch arbeiten. Aber es ist unglaublich. Du hast es unglaublich gemacht", sagt er.
"Sie ist doch toll", murmele ich leise.
"Wer ist toll?", fragt Liam nach.
Ich grinse und hätte nie gedacht, dass ich es mal sage, aber jetzt kann ich es echt nicht mehr verleugnen.

"Meine Gabe ist toll. Obwohl toll reicht nicht aus, um sie zu beschreiben. Sie ist einfach wunderbar."
"Ich habe es dir doch gesagt", sagt Liam.

Während wir beide in der Luftblase sitzen und zuerst mein Werk begeistert nach mehr Fehlern, als das mit dem Wasser, absuchen und ich dann Liams Gabe errate, ist echt eine Menge Zeit vergangen.
Als Liam sein Handy rausholt und auf die Uhr schaut, schmunzelt er kurz, sagt dann aber, dass wir mal schauen sollten, ob die Leute nicht doch schon wieder weg sind.
Ich nicke zustimmend und wir tauchen problemlos auf, sehen niemanden am Strand und laufen aus dem Wasser.
"Mir fällt keine Gabe mehr ein, verrat es mir doch einfach", sage ich und durchforste mein Gehirn nach allen möglichen Gaben, die ich kenne. Aber keine davon hat Liam.
Ich bin gerade mit beiden Füßen aus dem Wasser gelaufen, als mich eine Müdigkeit erdrückt und ich erschöpft auf den Boden falle.
"Grace!"
Sofort ist Liam neben mir.
"Oh man. Das hätte ich mir doch denken können", sagt er und flucht dann leise.
Ich versuche mit aller Kraft noch meine Augen offen zu halten, was alles andere als einfach ist, wenn man ausgelaugt ist und nur noch schlafen möchte.
"Grace? Keine Angst, du bist nur erschöpft. Deine Gabe hat dir ganz viel Kraft entzogen und jetzt, wo du nicht mehr bei ihr bist, merkst du es."
Ich will nicken, aber ich bekomme nicht mal mehr das hin.
Nur schwach nehme ich wahr, wie Liam seine Arme um mich legt, mich hochhebt und trägt. Mir verraten das eigentlich nur die Blitze, die mal wieder meinen ganzen Körper durchfluten.
Als er dann der Mauer ist, fängt er an zu fluchen.
Ich drehe den Kopf und schaue ihn fragend an.
Liam schaut mir in die Augen.
"Sie haben das Loch zugemauert."
"Wahrscheinlich... damit..."
Oh man, ich kann nicht mal mehr richtig reden.
"Ich denke, dass sie die Löcher zugemacht haben, damit nichts aus dem Meer dadurch kommen kann. Vielleicht verschwinden die Wachen ins Meer."
Ich nicke mit dem Kopf. Das habe ich gemeint.
"Und jetzt?", frage ich und Liam grinst.
"Klettern oder hier schlafen?"
"Klettern." Ich hole Luft. "Niemals hier schlafen."
Okay. Langsam kann ich schon wieder besser reden.
Aber gerne hätte ich noch so etwas wie 'Vor allem nicht mit dir!' hinzugefügt.
"Und wie soll das gehen?", fragt Liam und schaut auf die Mauer, die mir auf einmal viel höher vorkommt, als sie ist. Und da soll ich hochklettern, wenn ich nicht mal mehr laufen kann?
"Ich versuchs.", sage ich und Liam lässt mich auf den Boden.
"Das halte ich nicht für clever", murmelt er und hält mich fest, damit ich nicht gleich umkippe.
Ich will gerade meine Hand in eine winzige Lücke stecken, als Liams Handy anfängt zu klingeln.
Mit einem Seufzen holt er sein Handy hervor und starrt darauf.
Er wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor er drangeht.
"Ja?"
Na gut, so fange ich kein Gespräch an, aber egal.
Lange hört Liam dem Anrufer zu. Zwischendurch verzieht er das Gesicht und schaut immer wieder zu mir.
"Nein. Also wenn ich das richtig verstehe, müssen wir Jüngeren an die Mauer und die wo dahin müssen wurden ausgelost, richtig?"
Schweigen von Liams Seite und wenn ich sehr genau hinhöre, kann ich sogar die Stimme des Anrufers hören.
"Und ich bin dabei? Das gehört aber nicht zu deinem Plan."
Welcher Plan?
"Jetzt?"
Eine kurze Antwort folgt auf die Frage, da Liam gleich wieder das Wort ergreift.
"Na gut."
Er legt auf und starrt ein paar Sekunden auf den Boden, bevor er den Blick hebt und mich anschaut.
Seine Augen glitzern gruslig und ich trete einen Schritt zurück.
"Alles okay?", frage ich unsicher.
"Ich muss an die Mauer, weil jetzt Jüngere zur Verstärkung dort hingeschickt werden."
Er blickt kurz auf den Boden.
"Es tut mir leid."
Überrascht von dem Themenwechsel, will ich gerade fragen, was er meint, als sein Arm mit Schwung etwas in meinen Hals steckt.
Im schwachen Licht des Mondes habe ich etwas Silbern glänzen gesehen und jetzt schießt ein unglaublicher Schmerz durch meinen Hals.
Ich will schreien, aber Liam presst eine Hand auf meinen Mund. Ich will die Hand von meinem Mund wegziehen, aber Liam ist stärker wie ich.
Dann verschwimmt mein Blick und meine Knie knicken ein.
Bevor ich ohnmächtig werde, fällt mein Blick auf das ruhige Meer und ich versuche noch eine Verbindung zu dem Wasser herzustellen, aber ich werde vorher ohnmächtig.
"Es tut mir leid, Grace", höre ich noch Liam sagen, dann wird alles schwarz und ich falle ins Nichts.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt