Kapitel 46

8.4K 832 73
                                    

Zuerst bin ich ganz erstarrt und auch ehrlich gesagt ziemlich überrascht, weshalb ich mich einfach gar nicht bewege.
Aber als Liams Hand meinen Rücken runterwandert, erwache ich aus meiner Starre und ziehe Liam näher zu mir, in den ich ihn am Hals zu mir ziehe. Liam kommt meiner Aufforderung nach und der Kuss wird von zögerlich zu drängend, aber er ist trotzdem wunderbar.
Es ist mein erster richtiger Kuss!
Und warum auch immer fühlt es sich falsch an ihn zu erwidern. Eigentlich sollte es bloß Lukas für mich geben, aber jetzt küsse ich gerade Liam! Noch dazu hat er mich hierher gebracht und sorgt sozusagen für meinen Tod.
Ich lasse meine Hand von seinem Hals sinken und stoße ihn mit so viel Kraft ich habe weg von mir.
Nur blöd, dass ich mich in der Zwischenzeit mit dem Wasser ganz unbewusst verbunden habe und deshalb Liam nicht bloß einen Meter weit von mir weg gestoßen wird, sondern ich ihn mit meiner Kraft an die Wand gegenüber, ungefähr acht Meter von mir weg, schleudere.
Sofort nutze ich die Gelegenheit und stürze zur Tür.

Mit Schwung reiße ich sie auf und werfe noch einen kurzen Blick auf Liam, der sich gerade aufrappelt.
Total orientierungslos renne ich in die falsche Richtung und verstecke mich, als ich es merke in einem Raum.
Leise schließe ich die Tür und drehe mich um.
Sofort erstarre ich, als ich sehe aus was der Raum besteht.
Mitten in dem Raum, der relativ klein ist, steht ein Regal.
Ich laufe vorsichtig näher dahin und betrachte die Gläser, die dort verschlossen in einer Reihe stehen.
Jedes hat eine andere Farbe angenommen und ich nehme eins in die Hand und schüttele es, um zu erkennen, ob es sich um eine Flüssigkeit oder eine Art Nebel handelt.
In Wirklichkeit ist es eine Mischung.
Unten steht ein wenig Flüssigkeit und der Rest ist Nebel oder Dampf oder als was man es auch sehen möchte.
Ich stelle das Glas wieder zurück und betrachte die Schilder, die hinter den Gläsern stehen.
Die Zahlen von eins bis zehn stehen groß darauf und als ich sehe, dass die Gläser mit der Nummer neun und zehn noch leer sind, kapiere ich, um was es sich hier handelt.
Das sind die zehn Gaben, von denen bis jetzt nur acht da sind.
Und bald wird jedes Glas gefüllt sein, wenn ich nichts unternehme und nicht abhaue.

Lange starre ich die Gläser an und überlege, was ich jetzt machen soll.
Theoretisch könnte ich sie jetzt einfach aus dem Fenster werfen und der 'Böse' wird nie zu seiner geplanten Macht über ganz Onaria kommen.
Aber dann wären acht Leute ja ganz sinnlos gestorben! Wenn ich die Gläser jetzt vernichte, würde ich das vernichten, was noch von ihnen da ist. Ich würde acht Gaben vernichten. Und nicht nur das, ich würde acht Überreste vernichten.
Aber würden die wollen, dass der 'Böse' an die Macht kommt? Wahrscheinlich nicht.
Total hin und hergerissen, ob ich jetzt einfach acht Gaben vernichten soll, oder ob ich die einzige Chance nicht nutze und der 'Böse' dann doch zu der ganzen Macht kommt, entfacht einen Kampf in mir und ich lehne mich gegen die Wand.
Lange, vielleicht ein paar Sekunden, also doch nicht so lange, starre ich die Gläser an, bevor ich fest entschlossen das grüne Glas mit der Nummer eins in die Hand nehme und zum Fenster damit laufe.
Leise öffne ich das Fenster und schaue runter.
Circa vier Meter unter mir befindet sich der Sand mit ein paar Steinen und Felsen darin.
Ich schließe die Augen und atme einmal tief ein, bevor ich den Deckel von dem Glas schraube.
Ich betrachte die grüne Flüssigkeit, bevor ich das Glas mit Schwung umdrehe und die Flüssigkeit auf den Sand tropft und sich dort verteilt.
Hinter mir wird die Tür aufgerissen und Schritte nähern sich mir.
Ich werde panisch, da sich noch zwei kleine Tropfen in dem Glas befinden.
Komm schon! Die müssen auch noch raus!
"Bitte!", flehe ich die Tropfen an und versuche mich mit den Tropfen zu verbinden.
Hände greifen an mir vorbei und wollen nach dem Glas greifen, aber ich schleudere es mit so viel Kraft ich habe aus dem Fenster.
Bis zum Wasser schafft es das Glas nicht, was natürlich nicht gut ist.
Während Geschrei im Gebäude ausbricht, zerren mich kräftige Arme vom Fenster, aber ich sehe noch, wie mehrere Wachen aus dem Gebäude rennen und versuchen das Glas zu retten.
Erneut versuche ich eine Verbindung zu den Tropfen herzustellen und das ganze landet darin, dass ich einen kräftigen Schlag bekomme, aber nicht von dem der mich vom Fenster zieht, sondern von der Gabe.
Ein Schlag, der mich zusammenzucken lässt, aber nicht weil es so weh tut.
Nein, ich spüre, wie sich meine Gabe mit der anderen verbindet und ich die Gabe in mich aufnehme. Sie vermischen sich und vergraben sich in mir. Ich spüre es so sehr, dass ich schon fast glaube, ich würde es sehen.
Und dann werde ich einfach losgelassen und knalle auf den Boden.

"Das war nicht clever, Mädchen. Das wird ihm nicht gefallen", zischt ein Mann, der mich packt und aus dem Raum zieht.
Er reißt mich vom Boden hoch und schiebt mich vor sich her zu der Tür, als ich merke, dass ich ganz nervös bin. Mein Herz pocht schneller, meine Hände zittern und mein Atem geht ungleichmäßig.

Als er die Tür öffnet, fällt mir sofort Liam auf, der ein paar Meter vor dem 'Bösen' steht und ein ziemlich interessantes Gespräch mit ihm führt. Beide sind etwas lauter und auch überhaupt nicht der gleichen Meinung.
Kaum betrete ich den Raum, schauen beide auf mich.
Liams Blick ist ausdruckslos, während der 'Böse' mich mit seinem wohl umbringen will. Kein Wunder. Ich habe fast seine Arbeit vernichtet.
Liam tritt ein paar Schritte zurück und stellt sich neben einen Wachen, während ich zum 'Bösen' hin geschoben werde.
Dieser setzt sich in ganz ruhig auf seinen Thron und durchbohrt mich von dort mit seinem Blick.

Ich schaue ihm fest in die Augen, als auf einmal ein gewaltiger Blitz durch mich schießt.
Einen kleinen überraschten Schrei kann ich mir nicht ersparen und ernte viele verwirrte Blicke.

Verdammt, was ist mit ihr?, höre ich Liam sagen.
Was geht denn mit der falsch?, fragt ein Wache.
Wehe meine Vermutung stimmt! Okay, eindeutig die Stimme des 'Bösen', obwohl er nicht mal seine Lippen bewegt hat.
Verwirrt drehe ich mich zu Liam, der, als er mich anschaut, ein fast nicht sehbares Lächeln auf seinen Lippen hat.
Was ist denn hier bitteschön los?

Ich fixiere meinen Blick wieder auf den 'Bösen', der mich jetzt angrinst.
"Was ist hier los?", rufe ich und versuche mich von dem Mann, der mich hierher gebracht hat, loszureißen.
Haja, so dumm! Denkt, dass sie von mir wegkommt, wenn sie verwirrt spielt! Für wie blöd hält die uns?
Ich drehe mich zu dem Mann um.
Wie gerne würde ich ihr helfen, aber was ist denn überhaupt los?
Mein Blick geleitet zu Liam, dessen Augen sich verkleinern.
Ich habe Recht mit der Vermutung. Sie kann es jetzt. Grace, ich weiß, dass du mich hörst!
Ich schaue erneut den 'Bösen' an und sein Grinsen wird breiter.
Hallo, Gedankenleserin!

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now