Kapitel 37

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Als ich meine Augen aufschlage, liege ich in meinem Zimmer und bin mit meiner orangenen Decke zugedeckt.
Meine Jacke wurde mir ausgezogen, meine Schuhe stehen neben dem Bett und meine Schultasche befindet sich auf meinem Schreibtischsessel.
Mein Blick fällt auf das Fenster, das einen Blick auf eine schwach beleuchtete Straße freigibt.
Jetzt war ich ernsthaft mehrere Stunden ohnmächtig!
Ich will meinen Kopf zur Tür drehen, lasse es aber gleich wieder, weil ein fast nicht auszuhaltender Schmerz durch mein Gesicht schießt und ich muss die Lippen aufeinanderpressen, damit ich nicht schreie.
Leise stehe ich auf und stelle fest, dass ich nur Schmerzen habe, wenn ich meinen Kopf bewege.
Vorsichtig öffne ich die Tür und schleiche die Treppe runter. Ich will unbedingt wissen, wer meinen Schlüssel genommen hat und sich somit auch einen Zutritt zum Haus verschafft hat. Wehe es ist eine wildfremde Person!
Als ich die Treppe hinter mir gelassen habe, schaue ich um die Ecke und schrecke gleich wieder zurück.
Auf dem Sofa im Wohnzimmer liegt jemand und schaut Nachrichten an.
"...Ursachen für das Verschwinden des Mädchens sind noch unklar, aber nicht auszuschließen ist ein Zusammenhang mit den verschwundenen Wachen..."
Oh, wird ja immer interessanter!
Gähnend spähe ich noch einmal um die Ecke und erkenne, dass das definitiv ein Mann ist. Na toll, wer ist das?
So leise wie möglich schleiche ich mich von hinten an die Person heran und greife dabei nach einem Buch auf dem kleinen Tisch ein paar Meter vom Sofa entfernt.
Ich will gerade ausholen, als ich durch lautes Gebell unterbrochen werde und selber kurz schreie, weil der Hund mich so erschreckt.

Im schwachen Licht des Fernsehers erkenne ich die kleine süße Kessy und weiß dadurch auch, wer da auf dem Sofa liegt und schläft.
"Grace?"
Ich muss mich verbessern: wer da auf dem Sofa liegt und geschlafen hat.
Lukas.
"Hier sind nur wir beide, wer sollte denn sonst hier sein?", frage ich und Lukas ruft Kessy zu sich.
"Weiß nicht. Vielleicht dein Vater?"
O ja. Jetzt wo er es sagt, fällt mir auf, dass ich heute noch nichts von ihm gehört habe.
"Der ist zurzeit nicht so oft da", sage ich und meine Stimme wird zum Ende des Satzes hin leiser.
"Wieso nicht?"
Ich schaue in Lukas Augen, die völlig dunkel sind.
"Was geht dich das an?", frage ich bissig.
"Vielleicht weil ich dich bald heiraten muss und da will ich wenigstens noch wissen, warum du die meiste Zeit alleine hier bist."
"Stimmt gar nicht."
"Was? Etwa nicht? Ist dann etwa dein 'normaler' Freund oft hier oder wie soll ich das verstehen?"

"Nein!", sage ich mit fester Stimme. "Aber ich bin zurzeit oft draußen."
"Um dich mit ihm im Park zu treffen und einen schönen romantischen Abend miteinander zu verbringen?"
Gerade noch so kann ich verhindern, dass meine Faust einen Weg in sein Gesicht sucht.
"Du willst mich doch echt provozieren! Außerdem wieso warst du überhaupt hier?"
Ich zeige mit meinem Finger auf die Tür.
"Ich war mit Kessy spazieren gehen. Und dann habe ich gesehen, wie Jack und so ein komischer Freund aus dem Garten hier gekommen sind."
Jack hat Lukas nicht ohne Grund als Prinz bezeichnet. Ohne ihn würde ich gerade immer noch draußen im Regen in der Dunkelheit im Garten liegen.
"Danke", murmele ich und lege das Buch wieder auf seinen ursprünglichen Platz.

Ich muss furchtbar aussehen und der Gedanke, dass etwas vor meiner Ohnmacht geknackt hat, lässt mich ordentlich Gedanken über meine Nase machen.
Zügig laufe ich ins Bad und wage es ein paar Sekunden lang nicht, in den Spiegel zu schauen. Wahrscheinlich klebt überall getrocknetes Blut, meine Nase hat seinen gedachten Platz verlassen und hängt weiter rechts oder links und große blaue Flecken schmücken das Ganze noch aus dem Hintergrund.
Vorsichtig öffne ich ein Auge und schaue in den Spiegel.
Scharf ziehe ich den Atem ein.
Ich sehe furchtbar aus.
Zwar sind keine Anzeichen von Blut zu erkennen, abgesehen von meinem T-Shirt, das einen schicken Rotton angenommen hat, aber blaue Flecken besitze ich nicht wenige. Das Blut hat wahrscheinlich Lukas weggewischt.
Meine rechte Gesichtshälfte sieht echt demoliert aus. Schönheitsoperation von Jack.

Vorsichtig greife ich an meine Nase, die erstaunlicher Weise noch ihren dafür vorgesehenen Platz behalten hat, dafür sieht sie etwas krumm aus. Jack hat mir meine Nase gebrochen!
"Besser als mit dem ganzen Blut."
Ich zucke zusammen, als Lukas auf einmal direkt hinter mir steht.
"Vermutlich. Was macht man bei einer gebrochenen Nase?"
"Ich bin kein Arzt. Besser, wir fahren ins Krankenhaus", schlägt Lukas vor.
"Müssen wir nicht noch vorher mindestens eine halbe Stunde mit deiner Freundin telefonieren? Achso, ne, die müssen wir ja abholen, damit ihr auch schön euren Spaß bei der Sache habt."
"Grace-"
"Ich geh am besten alleine. Wir sehen uns dann nach den Ferien. Du weißt, wo die Tür ist, oder?"

Lukas schaut mich im Spiegel fassungslos an.
"Ist das jetzt dein Ernst?", fragt er und ich höre einen Tonfall in seiner Stimme, den ich vorher noch nie gehört habe. Eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Wut und Traurigkeit.
"Hier raus, dann nach rechts und den Gang bis zur großen Tür am Ende des Ganges. Ach und vergiss Kessy nicht."
"Grace, ich weiß echt nicht was das soll, aber ich werde dich jetzt nicht alleine lassen."
"Gibts jemanden, den ich anrufen kann, wenn ich belästigt werde?", frage ich und hänge noch ein Seufzen daran, aber nur um den Schmerz zu überdecken, der sich bildet, als ich mal an meine Nase greife.

Dann auf einmal packt Lukas mich an der Schulter und dreht mich zu sich um. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass Lukas keine Steckdose in Menschenform ist.
"Hör auf", sagt er ruhig.
"Was meinst du?", frage ich und tue so, als wüsste ich gar nicht, von was er redet.
"Wir gehen jetzt ins Krankenhaus!", sagt Lukas anstatt auf meine Frage zu antworten. "Und mit wir meine ich dich und mich und niemand sonst."
"Sicher, dass du auch nur fünf Minuten ohne Gefummel überleben kannst? Diese Rolle werde ich nämlich nicht einnehmen", sage ich und versuche erfolglos mich wieder zum Spiegel zu drehen.
"Man, kannst du bitte damit aufhören? Sonst fange ich mit deinem Freund an."
"Er ist nicht mein Freund! Und was, wenn ich dich daran erinnern muss, war dann das auf dem Sofa, wenn du nicht über ihn gesprochen hast?", erwidere ich.
"Komm, wir gehen jetzt."
Das 'komm' ist eigentlich voll unnötig, weil Lukas mich hinter sich herzieht,
Und nach langer Zeit, in der Lukas versucht, mich zum Auto zu bringen, ergebe ich mich und willige ein ins Krankenhaus zu gehen.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now