Kapitel 66

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Liams Sicht

"Ja.", antwortet Renée und ich bemerke, wie sich die Körperhaltung des Mannes entspannt.
"Gut.", murmelt er so leise, dass ich ihn fast nicht verstanden hätte.
Ich gebe mir einen Ruck und spaziere an dem Mann vorbei in das Haus. Renée und Graces Vater folgen mir auch gleich.
Der Mann taxiert uns zum Esszimmer und wir lassen uns auf den Holzstühlen am Tisch nieder.
Während Graces Vater uns etwas zu trinken anbietet, faltet Renée ihre Hände zusammen und schaut mich unsicher an.

"Nein, danke.", meine ich und auch Renée schüttelt den Kopf. "Wir sind wegen Grace hier."
Der Mann erstarrt in seiner Bewegung und hat sich dann schneller, als ich realisieren kann, uns gegenüber hingesetzt.

"Wegen Grace?", hakt er unsicher nach und Renée und ich nicken zur Bestätigung.
"Haben Sie eigentlich mitbekommen, dass Grace ein paar Tage, oder war es sogar eine Woche, nicht hier war?", frage ich und stelle seine Rolle als fürsorglicher Vater in Frage.
Graces Vater nickt eifrig.
"Natürlich. Das ist schon eine Woche oder so her. Aber früher hat sie auch oft mehrmals hintereinander bei Freunden übernachtet. Ich hatte gedacht, dass es dieses Mal wieder so war." Mein Blick ist starr auf seine Aura gerichtet, aber sie leuchtet nicht auf, was mir verrät, dass er die Wahrheit erzählt.

Ich schlucke und blicke hilfesuchend zu Renée, die aufmerksam unserem Gespräch gelauscht hat. Doch sie sagt mir durch ihren Blick, dass ich weiterreden soll.
"Nein, dieses Mal war sie...war es nicht so. Ein Mann hat sich für ihre Gabe interessiert."
Graces Vater blinzelt mehrmals.
"Ihre Gabe?", fragt er, als wüsste er nicht mal, dass es so etwas gibt.
"Wasser.", murmelt Renée.
"Und?", fragt Graces Vater auf einmal sehr neugierig und trommelt ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch.

Ich überlege ein paar Sekunden, was ich als nächstes sage.
"Um die Gabe zu bekommen, muss derjenige, der sie besitzt sterben.", fährt Renée für mich fort. "Grace hat es geschafft dem Mann zu entfliehen, aber sie wollte sich dafür rächen. Rächen für die anderen toten Leute, die für diesen wahnsinnigen Mann sterben mussten."
"So ist sie nun mal.", meint Grace Vater.

"Ähm,...", fängt Renée an und ballt ihre Hände zu Fäusten, wodurch ihre Fingerknöchel hervortreten. "...sie hat es nicht überlebt."
Der Mann hat gerade die Hand zu einer Bewegung angehoben, aber die Hand knallt einfach auf den Tisch.

'Sie hat es nicht überlebt?'
Ich zucke zusammen und starre Graces Vater an, dann Renée. Das hat er doch gesagt, aber wie, wenn er nicht mal die Lippen bewegt hat? Verwirrt blinzele ich und muss mich selbst davon überzeugen, dass ich mir das bloß eingebildet habe.

'Die machen nur einen Scherz! Es kann nicht wahr sein!'
Ich räuspere mich und versuche diese komische Stimme aus meinem Kopf zu verdrängen. Jetzt werde ich sogar schon verrückt!

'Aber wieso wären die denn sonst hier?'
Okay, jetzt reicht es!

Ich stehe eilig auf, damit ich das Haus verlassen kann, um mal frische Luft zu schnappen, als schon wieder eine Stimme ertönt. Doch dieses Mal ist es eindeutig eine helle, weibliche Stimme.

'Was ist denn jetzt mit ihm?'
Wie in Zeitlupe drehe ich mich zu Renée und Graces Vater um. Aber nur Renée beobachtet mich.

'Oh man, wehe der lässt mich genau jetzt alleine! Wie soll ich Graces Vater das denn erklären?'
"Hört auf!", zische ich wütend.
Renées Augen weiten sich und sie scheint gar nicht zu verstehen, was hier los ist.

"Wo ist sie jetzt?", flüstert Graces Vater und Renée rutscht nervös auf ihrem Stuhl hin und her.
"An einem guten Ort."
"Ich will sie sehen!", fordert er.
"Dafür werden Sie noch Zeit haben."
"Ich will sie aber jetzt sehen!", faucht er nur.
"Das geht aber nicht.", spricht Renée ruhig und blickt zu mir auf. "Wir werden Sie jetzt alleine lassen."

Sie greift nach ihrer Jacke, welche auf der Stuhllehne hängt, schlüpft seelenruhig in sie hinein, schiebt den Stuhl kratzend zurück und erhebt sich.
Mit einem Kopfnicken deutet sie mir an, ihr zu folgen und wir verlassen stillschweigend das Haus. Kaum fällt die Tür hinter mir ins Schloss, fängt Renée an zu reden.

"Was war denn mit dir los?", fragt sie und betrachtet mich wie einen Gestörten von der Seite.
"Ich habe komische Stimmen in meinem Kopf gehört. Es könnten...", ich stocke kurz und finde den nächsten Teil einfach nur unlogisch, "...Gedanken gewesen sein."
Renée beißt sich auf die Unterlippe und scheint offensichtlich nachzudenken.

"Ich habe mal gelesen, dass Leute, die zwei Gaben besitzen, also wie Grace, ihre zweite, nicht für sie gedachte, Gabe weitergeben können", erklärt sie.
"Du meinst also, dass sie mir das Gedanken lesen übergeben hat?"
"Eine andere Erklärung kenne ich nicht."

Ich kicke einen Stein wie einen Fußball vor mir her und lasse Renées Worte auf mich wirken.
"Das ist echt cool", sage ich fasziniert, auch wenn es mir lieber wäre, wenn Grace noch die Gabe besitzen würde. Dann würde sie noch leben.
Ich seufze und merke an Renées Haltung, dass sie das Gleiche gedacht hat.

"Na gut, ich geh dann mal nach Hause", murmelt sie und zeigt mit dem Finger nach rechts, auf eine Straße mit einigen Wohnhäusern der 'Reichen' gleichmäßig am Rand verteilt. "Wenn es was Neues gibt, sage ich dir gleich Bescheid. Ach und stell dich darauf ein, dass sie morgen schon beerdigt wird."
Ich nicke. Jeder weiß, dass die Beerdigungen bei 'Reichen' sehr schnell gehen, manchmal sogar noch am selben Tag. Aber das sind Sonderfälle.

Das Klingeln meines Handys weckt mich am nächsten Morgen.
Noch halb schlafend greife ich zum Nachttisch und versuche das Handy zu mir zu ziehen.
Müde öffne ich wie in Zeitlupe meine Augen und starre auf das Handy. Grace, steht da.
Verwirrt blinzele ich einmal, aber die Buchstaben haben sich nicht geändert.
Mit zitternden Fingern tippe ich auf 'Annehmen' und hebe das Handy ans Ohr.

"Hallo?", frage ich unsicher und warte ganz gespannt auf eine Antwort.
"Idiot?"

Ich ziehe scharf die Luft ein und setze mich im Bett auf.
"Grace?"
"Nein!", ertönt Renées Stimme. "Aber sie hat dich als Idiot eingespeichert und dann habe ich mir gedacht, dass du das bist."
Enttäuscht lasse ich mich zurück in die Kissen sinken.
"Was gibt es?", hake ich nach.
"Ähm, die Beerdigung ist heute Abend um...warte kurz...", sagt sie und das Rascheln von Papier ertönt. "...ah, da! Um 17 Uhr."
"Komische Zeit.", murmele ich.
"Was ist bei uns 'Reichen' denn nicht komisch? Also dann bis heute Abend."
Ehe ich noch etwas sagen kann, erklingt ein nerviges gleichmäßiges Piepsen.
Ich lasse das Handy sinken und rappele mich auf.

Klirrend rühre ich mit dem Löffel im Müsli herum.
"Liam, was ist denn los?", fragt meine Mutter besorgt, aber ich starre stur auf mein Essen, bin in Gedanken aber bei Grace.
"Liam!", sagt meine Mutter jetzt schon lauter. Erschrocken von dem bedrohlichen Ton in ihrer Stimme rutscht mir der Löffel aus der Hand. "Jetzt sag mir doch endlich mal, was los ist. Ich will dir nur helfen."
Auf einmal spüre ich eine Hand auf meiner, die sachte meine drückt.
Langsam hebe ich den Kopf und schaue ihr in die grünen Augen.
"Nichts.", zische ich, stehe eilig auf und verschanze mich in meinem Zimmer.
Gegen Nachmittag verlasse ich unauffällig das Haus und fahre mit dem Auto in Richtung der 'Reichen'.

Wenig später sitze ich in einer großen und prächtigen Kirche. Neben mir hockt Renée in einem schlichten schwarzen Kleid, dann Lukas, auch etwas vornehmer angezogen, dann Steven, der eigentlich so angezogen ist wie ich, nämlich schwarze Jeans und dunkles Oberteil, und dann noch Ariane.
Diese hat sich total in die Schale geworfen und sieht für ihr Verhältnis ganz gut aus.

Ein Räuspern ertönt und ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Pfarrer, während immer noch ein paar Leute in die Kirche kommen. Unter ihnen ist auch Graces Vater, der sich mit auf den Boden gerichteten Blick eine Reihe hinter uns niederlässt.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now