Kapitel 29

10.6K 907 71
                                    

"Komm, wir gehen zurück", sagt Lukas und nimmt meine Hand.
Ich schaue ganz langsam um den Hügel herum und schrecke auch gleich wieder zurück.
"Hat er dich gesehen?", fragt Lukas besorgt.
Ich schüttele den Kopf. "Nein."
Lukas wartet ungefähr zehn Sekunden, dann reißt er mich mit sich.
Ich schaue nicht hoch, sondern achte nur auf meine Schritte, damit ich nicht auch noch hinfalle.
Lukas zieht mich hinter einen Felsen, wo wir uns ganz klein machen.
Ich atme ganz schön schnell und versuche mich zu beruhigen. Lukas ist aber auch ganz aus der Puste.
"Ich glaube, so schnell bin ich noch nie gerannt", sage ich.
Lukas grinst.
"Ich auch nicht. Nicht mal in Sport."
Ich lege meinen Kopf an den kalten Felsen und schaue ganz vorsichtig nach dem Wachen.
Kaum hat er sich umgedreht, springen wir auf und rennen die letzten Meter zur Mauer, wo wir uns wieder im Loch verstecken.
Ziemlich schnell haben wir es dann an den Häusern der 'Armen' vorbei, bis zum Auto geschafft.

"Ich will gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn der uns entdeckt hätte.", sagt Lukas, während ich auf das Gaspedal trete und auf den Stadtteil der 'Reichen' zusteuere.
"Entweder er hätte uns gehen lassen, weil wir bloß Jugendliche sind, oder er hätte uns an die Polizei übergeben."
"Wahrscheinlich das Letzte."
Ich nicke.
"Kommst du morgen wieder?", fragt Lukas.
Ich überlege. Mein Arzt würde mich noch eine ganze Woche vom Unterricht freischreiben. Aber was bringt mir das? Meinen Vater werde ich nicht so schnell besuchen und außerdem brauche ich eine Beschäftigung, um nicht über meine ganzen Probleme denken zu müssen. Schule würde mir ganz gut tun.
"Wahrscheinlich", sage ich und spüre Lukas Blick auf mir. "Was ist?"
Ich schaue Lukas an.
"Sicher, dass es dir gut geht? Früher wärst du so lange wie möglich vom Unterricht weggeblieben und jetzt?"
Schnell schaue ich wieder auf die Straße.
"Freu dich doch, dass ich wieder zur Schule komme", sage ich.
Lukas dreht sich zur Straße um.
"Grace, das tue ich doch! Aber irgendetwas stimmt nicht mit dir. Und es ist gar nicht gut, was mit dir passiert."
Ich halte vor seinem Haus.
"Bis morgen", sage ich, als er die Tür öffnet.
"Ich finde es heraus, glaub mir. Und dann werde ich dir helfen."
Er steigt aus und ich fahre gleich zu Renée. Im Rückspiegel sehe ich, dass Lukas mir noch hinterher schaut.
Er will es herausfinden! Ich muss gut aufpassen. Ich weiß nicht, wie er darauf reagiert, wenn er erfährt, dass mein Vater sich umbringen will und dass ich Liam mehr vertraue wie ihm, obwohl ich ihn schon seit ich denken kann kenne.

Keine drei Minuten später halte ich bei Renée und klingele.
"Das hat aber lange gedauert!", sagt sie und zieht mich ins Haus. "Nächstes Mal will ich ein Minutenprotokoll, weil ich, so wie ich dich kenne, jetzt davon ausgehe, dass du nichts erzählen wirst."
Ich grinse. "Da hast du bedauerlicherweise Recht."
"Och man, aber sag mir dann wenigstens, wenn ihr euch küsst, okay?", sagt sie, setzt sich auf das Sofa und klopft mit der linken Hand auf den Platz neben ihr.
"Und jetzt darfst du erzählen", sage ich und schaue sie an. Ich merke, dass sie unbedingt etwas loswerden will.
"Ich? Was denn?", fragt sie ganz verwirrt.
"Ja, du. Du willst etwas sagen, ich weiß es doch."
Renée schaut auf den Boden, während sie mit der einen Hand nervös am Ende ihres blauen T-Shirts rumfuchtelt.
"Ja, ich will etwas sagen. Aber ich weiß nicht wie."
"Na gut. Überlegs dir, wie du anfängst. Ich habe Zeit", sage ich und lehne mich zurück.
"Jack hat mich angerufen", sagt sie und ihr Tonfall verändert sich ein wenig in Wut, warum auch immer.
"Er hat gemeint, dass er mich besucht. Einfach so." Sie seufzt.
"Ich habe ihm gesagt, dass wir darüber in der Schule reden."
Sie holt Luft und sucht nach passenden Worten.
Ich unterbreche sie nicht, da ich sie nicht bedrängen will. Wenn sie etwas nicht erzählen will, dann soll sie es einfach weglassen.
"Und er hat gesagt, dass er mir in der Schule extra aus dem Weg geht und dass ich bloß nicht mit ihm reden soll, weil das seinen Ruf verschlechtern würde."
Okay, der kann morgen was erleben!
"Ich war so schockiert, dass ich einfach aufgelegt habe."

Eine Träne verlässt ihr Auge und Renée wischt sie schnell weg.
"Am nächsten Tag habe ich ihn in der Schule dann wirklich nicht gesehen. Als dann aus war, habe ich auf dem Parkplatz auf ihn gewartet. Er kam als Letzter heraus. Wahrscheinlich hat er gehofft, dass ich schon weg bin."
Renée zieht die Beine an sich und legt das Kinn auf den Knien ab.
"Der ganze Parkplatz war leer und deshalb habe ich auch richtig Angst bekommen, als er mich gesehen hat und ziemlich schnell auf mich zukam. Dabei hat er mir einen 'am liebsten würde ich dich umbringen'-Blick zugeworfen."
Eine blonde Haarsträhne rutscht vor und bedeckt ihr Gesicht von der Seite, weshalb ich ihren Gesichtsausdruck nicht sehen kann.
"Dann hat er mich angebrüllt, dass ich nächstes Mal zustimmen soll, wenn er sagt, dass er zu mir kommen will. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, deshalb habe ich es einfach zugelassen, dass er mich angebrüllt hat. Aber ich hätte ihm so gerne eine geknallt. Was er mir noch alles gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Ist auch egal."
Sie zuckt mit den Schultern, als müsste sie das 'egal' zusätzlich betonen.
"Dann hat er mich gegen mein Auto gedrückt und mich geschlagen. Eigentlich habe ich ihm nichts gemacht, deshalb bin ich richtig sauer geworden, habe es aber noch unterdrückt. Als er mich dann ... ja angefasst hat, habe ich ihn angeschrien und selber zugeschlagen."
Sie fängt an zu weinen.
"Dann ist so ein komischer Mann gekommen, der halt spazieren war und hat mir geholfen. Jack ist zwar abgehauen, aber ich weiß, dass das noch nicht alles war."
Renée fängt an, an ihren Fingernägeln zu kauen.
"Ich habe Angst", murmelt sie.
Total sprachlos von dem, was sie mir gerade erzählt hat, weiß ich nicht, wie ich reagieren soll.
Aber zuerst Mal nehme ich sie in den Arm.

Wir sind uns in vielen Sachen so gleich.
Kein Wunder, dass wir beste Freundinnen sind.
Sie wirkt nach außen hin perfekt, so wie ich. Naja, perfekt bin ich nicht, aber wir versuchen unsere glückliche Fassade nicht fallen zu lassen und das zerstörte Mädchen darunter zu zeigen.
Sie hat es nur mir anvertraut, so wie ich sie kenne und ich habe meine Probleme nur Liam anvertraut. Erst jetzt wird mir bewusst, welche Last er dadurch hat. Er fühlt sich jetzt wie ich. Er versucht eine Lösung für meine Probleme zu finden, so wie ich mir gerade den Kopf über eine Lösung für die Sache mit Jack zerbreche. Ich habe ihn einfach mit reingerissen, obwohl er es vielleicht nicht wollte. Ich sollte ihn jetzt einfach nur in Ruhe lassen. Wenn ich ihm jetzt aus dem Weg gehe, ist es noch nicht zu spät. Dann kann er meine Probleme und mich vergessen und einfach ohne ein hilfloses und von Problemen zerstörtes Mädchen weiterleben.
Genau, das mache ich.
Ich werde ihm aus dem Weg gehen, dann vergisst er mich. Das ist besser für ihn und vermutlich auch für mich. Dann werde ich Lukas nicht mehr länger anlügen müssen und deswegen nicht mehr mit Schuldgefühlen rum laufen müssen.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt