Kapitel 40

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Auf meine Frage hin grinst Liam.
"Womit willst du denn anfangen?", fragt er und ich zucke ratlos die Schultern.
"Du bist der Trainer. Dann muss ich das doch nicht wissen."
"Wie immer planlos, Miss Reich."
"Also?", frage ich neugierig.
"Kontrolle. Das Wichtigste ist Kontrolle über sein Element zu haben."
"Gut. Dürfte nicht so schwer sein", sage ich und frage mich, wie man seine Gabe nicht kontrollieren kann. Immerhin gehört es zu uns. Es ist ein Teil von uns. Wenn man die Gabe nicht kontrollieren kann, ist das, als hätte man keine Kontrolle über seinen Arm.
"Ja, eigentlich ist das nicht schwer, aber ob du das hinbekommst ist eine andere Sache. Du bist halt einfach ein spezieller Fall."
"Danke, ich fühle mich geehrt. Aber ich glaube du zeigst mir lieber, was ich machen soll, bevor wir noch so lange hier stehen, dass es dunkel wird und wir nichts mehr sehen können."
"Ist ja auch mein Ziel", sagt Liam und ich drehe meinen Kopf zu ihm.
"Was? Wieso das denn?", frage ich und Liam grinst. Mal wieder.
"Im Dunkeln kannst du nichts mehr sehen. Dann wird dir deine Gabe genau so gut gehorchen, wie wenn du die Augen zumachst."
"Also wird sie mir gar nicht gehorchen", murmele ich.
"Das wäre bei Wasser doch mal lustig."
"Vielleicht für dich. Also, was soll ich machen?", frage ich.
"Greif mich an."
"Was?", frage ich und bin mir sicher, dass ich mich verhört habe.
"Du. Sollst. Mich. Angreifen", sagt Liam. "Mir wird schon nichts passieren, aber trotzdem danke im Voraus, dass du dich um mich sorgst."
"Bestimmt nicht", sage ich und drehe mich zum Wasser.
Na gut. Wie mache ich das jetzt?
"Anstarren hilft nur bei wenigen Gaben etwas", sagt Liam und lacht.
"Wer weiß ob es nicht bei Wasser genau so ist?", frage ich und als hätte man mir einmal im Leben ein kleines bisschen Glück geschenkt, richtet sich ein Teil des Wassers in einen kleinen, fast nicht zu sehenden Strahl auf und schießt auf Liam zu.
Dieser macht eine kleine Handbewegung und das Wasser klatscht auf die Wiese.

"Hab ich mir gedacht. Da muss man noch viel üben. Wenn du Kontrolle gehabt hättest, hättest du verhindern können, dass ich deinen Angriff verhindere. Denn Abwehr ist nicht meine Gabe. Jeder kann die Gabe eines anderen abwehren. Der eine kann das besser, der andere halt nicht so gut. Aber jeder kann einen kleinen Schutzschild um sich herum aufbauen oder Gaben durch Bewegungen abwehren. Du auch."
"Ich hätte mich natürlich nicht zu jeder gezählt", murmele ich.
"Versuch das noch mal mit dem Angriff. Und dieses Mal konzentrierst du dich, dass ich deinen Angriff nicht verhindere", sagt Liam.

Mein Blick gilt dem Wasser. Ich schließe die Augen und konzentriere mich, so wie er es gesagt hat. Meine gesamte Konzentration gilt den Geräuschen des Meeres. Ich stelle mir das Meer vor. Langsam lasse ich einen Strahl entstehen. Groß und gewaltig, also für die Anfangstrainingsphase relativ groß, soll er sein. Ich sehe in Gedanken den Strahl, lasse die Augen aber geschlossen.
Auf einmal verbindet er sich mit mir. Er passt sich mir an und gehorcht meinen Befehlen.
'Greif an!', befiehlt meine Gedankenstimme meinem Gedankenstrahl.
Ich höre, wie das Wasser an mir vorbei auf Liam zuschießt. Zwar sehe ich es nicht, aber ich spüre, dass das Wasser an einer Art Schutzhülle abprallt und droht dadurch vernichtet zu werden.
Ich runzele die Stirn und brauche Unmengen an Energie, damit der Strahl nicht zerbricht. Mein ganzer Körper spannt sich an und ich balle die Hände zu Fäusten.
Lange bleibt der Strahl aus meinen Gedanken in der Luft hängen und ich hoffe, dass es in Wirklichkeit auch noch so ist.
Ich ziehe das Wasser zu seiner Quelle, dem Meer zurück und hole von dort neue Kraft für einen weiteren Angriff.
Auf einmal packt Liam meine Hand und das Wasser verschwindet im Meer und vermischt sich dort.
"Grace!", sagt er ziemlich laut und ich zucke zusammen.
"Was?"
"Hast du mich nicht gehört?", fragt er und ich schüttele den Kopf.
"Nein. Was hast du denn gesagt?"
"Dass es reicht. Dass du aufhören sollst. Aber du hast mich einfach nicht gehört."
"Und? Ist ja nicht so tragisch! Kein Grund mich jetzt so blöd anzustarren", sage ich und Liams böser Blick wird wirklich weicher.
"Tschuldigung. Ich hatte nur Angst, dass deine Gabe stärker ist als du und dich eingenommen hat."
"O ja, die Gabe, die nur böses im Sinn hat", murmele ich.
"Wieso ist denn das mit dir so anstrengend? Naja, Kontrolle hast du bestens. Du musst bloß aufpassen, dass deine Gabe nicht stärker wird als du."
"Hab ich jetzt auch schon verstanden."
Liam grinst und fordert mich dazu auf, noch einmal einen Angriff zu starten.

Erst als die Sonne untergeht sagt Liam, das wir mit dem Training fertig sind. Erschöpft setze ich mich auf einen Stein und schaue auf das Meer.
Liam setzt sich mit Schwung neben mich.
"Du bist echt gut", sagt er und ich schaue ihn an.
"Wo hast du eigentlich gelernt, wie man eine Gabe trainiert?", frage ich, woraufhin Liam nervös mit den Füßen den Schnee platt drückt.
"Das habe ich nicht gelernt. Ich habe es mir selber beigebracht. Ich wollte meine Gabe besser benutzen können, als die anderen, deshalb habe ich neben dem Gabentraining immer noch selber geübt."
"Und mittlerweile machst du es mit anderen."
"Nein, nur mit dir. Du bist die einzige, die ich trainiere. Und man kann es nicht nur so sehen, dass es nur dir etwas bringt. Ich selber benutze meine Abwehrkräfte. Die müssen wir bei dir auch noch trainieren. Also bringt mir das Training auch etwas. Denn mal ganz ehrlich, wir besitzen etwas, was die Menschen nicht haben, aber wir benutzen es nie. Wann gebrauchen wir schon unsere Gabe im Alltag?"
Das ist eine gute Frage. Okay, Renée muss nie zu mir laufen, sondern zaubert sich von wo auch immer sie ist einfach direkt in mein Zimmer, Lukas schlägt ein Buch auf oder schließt ein Fenster ohne es zu berühren, aber wirklich oft benutzt keiner von beiden seine Gabe. Mum hat ihre nie benutzt und auch Dad verzichtet gerne auf so etwas 'Unnatürliches' wie er es früher immer genannt hat.

"Sehr selten."
"Ja und das sollte man ändern. Wenn wir schon so etwas Besonderes besitzen, sollten wir es auch mal nutzen."
Ich nicke.
"Warum machen wir es dann nicht?", frage ich leise und der kalte Wind weht meine Haare nach hinten.
"Ich weiß es nicht."
Liam nimmt sich eine meiner Haarsträhnen und betrachtet sie lange, während er in seinen Gedanken vertieft ist.
"Wir sollten gehen", murmelt er und steht auf. Ich folge ihm und so klettern wir durch die Mauer durch.

Wir wollen gerade mitten über das Feld laufen, als ich Lichter bemerke, die schnell näher kommen.
"Liam?"
Ich zeige auf die Lichter und Liam verzieht das Gesicht.
"Was ist das?", frage ich und hoffe mal, dass es nicht das ist, was ich vermute.
"Ein Auto", sagt Liam.
Na toll. Was sollen wir jetzt machen? Zur Stadt kommen wir nicht, ohne dass uns die Person im Auto bemerkt. Und dann kommen wir zur Polizei, weil wir zu nah an der Mauer waren.
Liam nimmt meine Hand und zieht mich wieder hinter die Mauer ans Meer.
Ich presse mich direkt an die kalte Wand, während Liam immer wieder durch das Loch zum Auto schaut.
"Grace, wir müssen hier weg", zischt er nach ein paar Sekunden.
"Wieso?", frage ich, während Liam erneut meine Hand nimmt und mich mit sich zieht.
"Es kommt direkt auf das Loch in der Mauer zu", flüstert er und fängt an zu rennen.
Ich schaue auf das Meer, während die Sonne mit ihren letzten Strahlen hinter dem Meer versinkt.
"Wenn sie hierher kommen, werden sie uns sehen."
Liam bleibt stehen.
"Man kann sich hier nirgendwo verstecken und wenn wir noch weiter gehen, werden wir bald zu dem bewachten Teil der Mauer kommen", füge ich noch hinzu.
Liam fährt sich ratlos durch die Haare und auch ich schaue mich hektisch um.
Es muss doch irgendetwas geben...
"Es ist ziemlich verrückt, aber ich glaube, dass ich eine Idee habe", sage ich und Liam schaut mich neugierig an.
Ohne ihm etwas zu sagen laufe ich auf das dunkelblaue Meer zu.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now