Kapitel 22

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Die Hände ineinander verschlungen, die Haare in einem lockeren Zopf zusammengesteckt und die Beine nervös vor und zurück wippend, sitze ich in der Küche und warte darauf, dass mein Dad nach Hause kommt.
Heute habe ich mal für uns beide gekocht und zwar um diese Zeit, zu der er normalerweise immer kommt. Warum heute nicht?
Weil ich jetzt nicht mal mehr die Hände still halten kann, stehe ich auf und laufe ans Fenster.
Draußen ist es ziemlich dunkel, die Straßenlaternen sind an und ein starker Wind bläst und verbreitet Kälte.
Obwohl ich im warmen Haus stehe, ziehe ich meine Jacke enger um mich, weil mir schon kalt wird, wenn ich nur einen Blick nach draußen werfe. Die Frau von der Wettervorhersage hatte Recht. Der Winter steht vor der Tür. Und das schon im Oktober.

In meine Gedanken vertieft, habe ich gar nicht mitbekommen, wie das Telefon, dass ich heute morgen wieder zusammengesteckt habe, weil es auf den Boden gefallen war, geklingelt hat.
Erst beim letzten Ton, erwache ich aus meiner Gedankenwelt.
Ich stürze zum Telefon hin und drücke eine Sekunde zu spät auf die grüne Taste.
"Mist!", fluche ich und stelle das Telefon wieder hin.
Dann setze ich mich an den Tisch und werde immer hungriger. Ich bin um kurz nach neun Uhr sogar so hungrig, dass ich auch ohne meinen Vater esse. 'Grace, das macht man nicht!', höre ich meine Mutter sagen. Sie hat Recht. Ich lasse das Essen stehen und setze mich vor den Fernseh. Stundelang schaue ich irgendeine Casting-Show an, weiß am Ende aber doch nicht, um was es überhaupt geht.

Kurz bevor ich einschlafe, stehe ich auf und rufe meinen Vater auf seinem Handy an. Aber natürlich kann ich ihn nicht erreichen.
Eigentlich sollte ich schon längst im Bett sein, weil ich morgen zur Schule muss, aber ich beschließe, meinen Vater zu suchen.
Total erschöpft und mit wenig Schlaf von letzter Nacht, fahre ich in meinem Auto zu Dads Arbeit.
Die Lichter in dem Gebäude brennen noch und ich steige aus und laufe zu der Frau an der Rezeption.

"Hallo, Grace", sagt sie und strahlt mich an.
Ja klar, dass die mich alle kennen. Ich bin ja auch die Tochter des Chefs.
"Hallo..." Ich werfe einen Blick auf das Namensschild, weil mein Vater immer neue Frauen hier arbeiten hat. Manchmal frag ich mich, ob er nicht was mit ihnen hat. Immer so junge und super hübsche Frauen in seiner Arbeit anzutreffen, kann auch daneben gehen. Ich schlucke bei dem Gedanken, dass mein Vater meine Mutter immer wieder betrogen hat.
"Ich wollte fragen, ob mein Vater da ist", sage ich und schlage das Bild von dieser Frau und meinem Vater aus dem Kopf.
"Nein", sagt sie kurz angebunden.
"Äh und hat er was gesagt?", frage ich und spüre, wie Panik in mir aufsteigt.
Die Frau lächelt.
"Nein."
Oh man! Schon mal was von längeren Sätzen gehört? Am liebsten hätte ich mich zu der Frau gebeugt und sie erwürgt, wenn sie mir nichts sagt.
"Nein? Mehr nicht?", frage ich etwas genervt und wütend.
"Nein."
"Ausgeprägter Wortschatz. Naja, vielen Dank für Ihre...Hilfe", sage ich und verlasse wieder das Gebäude. Hilfe hat zwar nicht gepasst, aber man muss immer höflich sein. Wer weiß, vielleicht hat sich die Frau ja Mühe gegeben?

Auf der Fahrt nach Hause, fahre ich so schnell, dass ich schöne neue Bilder auf die teuere Art mache. Warum aber auch haben wir die Blitzer von den Menschen übernommen?
Ich parke in die Garage und sehe, dass mein Dad immer noch nicht da ist, da sein schwarzes Auto fehlt.
"Wo bist du?", zische ich und fahre mir durch die Haare.
Wo soll ich ihn suchen? Er kann überall sein. Und er kann gerade auch dabei sein, sich umzubringen.
Dieser Gedanke treibt mich dazu an, dass ich stundenlang durch dunkle, dreckige Straßen laufe, an der Mauer und sogar in einem Wald unterwegs bin.
Doch mein Dad lässt sich nicht finden.
Müde lasse ich mich gegen einen Baum sinken und werfe einen Blick auf mein Handy, dass vier Uhr morgens anzeigt. Na gut, das wird nichts mit Schule.
Während ich an dem Baum runtergleite, weil meine Beine gerade einfach wegknicken, fange ich an zu weinen. Ich fühle mich einfach so alleine und verloren. Und das bin ich auch. Dann schlafe ich total müde ein.

"Grace? Oh mein Gott!", holt mich eine Stimme aus meinem Traum, der eigentlich nur ein Alptraum war und ich hautnah dabei war, wie mein Dad sich aufgeschlitzt hat.
Ganz langsam öffne ich die Augen, was gar nicht so einfach ist, weil die Augenlider so schwer wie Blei sind.
Als ich sie halb geöffnet habe, sehe ich einen mir bekannten Grünton.
"Grace! Sag etwas!", fordert mich Liam auf.
Ich öffne den Mund, was ganz schön Kraft kostet.
"Idiot", bringe ich leise hervor.
Ich kann Liams Reaktion nicht sehen, da sich meine Augen ungewollt schließen. Ich will einfach nur Ruhe und Schlaf.
Kurz darauf spüre ich einen leichten Schlag auf meiner Wange und reiße geschockt die Augen auf.
"Geht doch. Warum schläfst du hier? Habe immer gedacht, dass ihr 'Reichen' mehr Luxus habt, als einen dreckigen, ungepflegten Park."
"Lustig, Idiot", sage ich ohne auch nur Anzeichen eines Lachens zu zeigen.
Stattdessen greift meine Hand in meine Jackentasche und zieht den Schlüssel daraus hervor.
"Nach Hause", murmele ich und hebe ihm den Schlüssel hin, während mir die Augen erneut zu fallen.
Liam rüttelt an meinen Schultern.
"Nein, Grace! Jetzt mach deine Augen auf!"
Lange spricht er auf mich ein, bevor er mich hochhebt und mich aus dem Park trägt.
Und als hätte ich in eine Steckdose gelangt, bekomme ich immer wieder einen Schlag, ausgehend von den Stellen, an denen Liam mich berührt. Will der mich damit töten?

Nur nebenbei bekomme ich mit, wie Liam eine Tür aufschließt und mich irgendwo ablegt.
"Ich bin da, Grace. Versuch zu schlafen."
Eigentlich nur dumm, dass ich einen Fremden in dem Haus meiner Eltern habe und er versucht, mich zum Schlafen zu beruhigen. Der will doch bloß was klauen.
Nein! Liam wird nicht stehlen und noch dazu ist er kein Fremder!
Und während Liam immer noch redet, schlafe ich wieder ein.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt