Kapitel 20

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Leise schließe ich die Tür hinter mir und schaue mich in dem Flur um.
Dads Schuhe sind achtlos verstreut, ebenso versperrt eine auf den Boden geworfene Jacke den Weg.
Ich laufe in das Wohnzimmer und mir fällt als Erstes auf, dass jeder Rollladen unten ist.
"Dad?", sage ich leise und ziehe einen Rollladen hoch.
Dann laufe ich in die Küche. Dort ist er auch nicht, genauso wie im ersten Stock.
"Dad!", rufe ich und durchsuche jedes Zimmer ganz genau.
Wo ist er denn hin? Hier ist er nicht, also ist er vielleicht spazieren gegangen.
Ich gehe in mein Zimmer und lege mich müde auf das Bett.
Mit einem genervten Geräusch, ziehe ich das Handy aus meiner Tasche, weil es gerade dauervibriert.
Nachricht von Renée.
Zwei Sekunden später: Nachricht von Renée.
Stöhnend lege ich das Handy neben das Bett und ziehe noch die Schuhe aus, bevor ich im Land der Träume verschwinde.

Regentropfen, die gegen meine Fensterscheibe prasseln, reißen mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf.
Ich taste nach meinem Lichtschalter und kneife die Augen zusammen, als es augenblicklich hell wird.
Langsam öffne ich die Augen und schaue auf die Uhr über meinem Schreibtisch.
Drei Uhr.
Ich will mich gerade wiederzurücklegen, als ein erstickter Schrei durch das Haus dringt.
Mit einem Satz bin ich aus dem Bett und greife nach einem Schuh, falls es sich um einen Einbrecher handelt.
Ich öffne ganz vorsichtig die Tür, streng darauf bedacht, dass sie nicht knarzt.
Immer wieder dringen komische Geräusche von unten hoch und lassen mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen.
Ich hebe den Schuh schützend vor mich, während ich leise die Treppe runterlaufe.
Beste Bewaffnung, die man haben kann, aber was besseres habe ich nicht gefunden.
Nur zu gerne wäre ich schreiend und in Rekordzeit die Treppen wieder hoch gerannt, aber ich zwinge mich einen Schritt vor den anderen zu setzen und dem Geräusch näher zu kommen.
Es hört sich eigentlich wie Schreie an, aber irgendwie kann die Person nicht richtig schreien.
Meine Hand tastet nach dem Lichtschalter und ich weiß, dass im Wohnzimmer jemand unterdrückt schreit und dass dort jemand ist.
Ehe ich auf den Schalter drücke, atme ich einmal tief ein.
Das wird mein letzter Atemzug sein!
Natürlich wird es das sein, wenn da jemand mit einer Pistole dasteht und nur darauf wartet, dass ich das Licht anmache.
Klick.
Das Licht erhellt den ganzen Raum und ich stoße einen Schrei aus, als ich alles sehe.
Ich hätte mit einem Einbrecher oder Mörder gerechnet, aber nicht damit.
Meine Schreie ersticken und ich stürze auf meinen Dad zu, der versucht, sich aufzuhängen.
Seine Augen sind geschlossen, sein Mund geöffnet und seine Beine zucken noch.
Er lebt! Aber wenn ich jetzt nichts unternehme, wird er das nicht mehr lange.
Ich stelle blitzschnell den Stuhl, den er vermutlich unter sich hatte, auf und greife nach dem Seil.
Mit schweißgebadeten und zitternden Händen, versuche ich den Knoten zu lockern.
Komm schon!
Der Knoten rutscht mir aus der Hand und ich spüre Tränen meine Wange hinabrollen.
Gib nicht auf!
Erneut lockere ich ihn und ziehe den Kopf meines Vaters aus der Schleife.
Mit einem lauten Knall landet mein Vater auf dem Boden.
Ich springe vom Stuhl und taste nach seinem Puls.

"Lebt", flüstere ich, als müsste ich mich damit überzeugen.
Meine Hand greift nach dem Telefon, aber es rutscht mir aus der Hand und bricht auf dem Boden in zwei Teile.
"Scheiße!", fluche ich, laufe in die Küche und hole eine Flasche Wasser.
Ohne zu zögern leere ich sie über Dads Kopf aus, der sich sofort bewegt.
"Mhm?", fragt er, als wäre nichts gewesen.
Dann greift er sich an den Hals, wo ihm das Seil kräftig in den Hals geschnitten und die Haut aufgeschürft hat.
Ja, das dürfte weh tun.
Ich balle meine Hände zu Fäusten, als ich realisiere, was passiert wäre, wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre. Er wäre tot. Er hätte sich selbst umgebracht. Und ich müsste in ein Waisenhaus. Vermutlich.
"Was soll die Scheiße?", schreie ich ihn wütend an.
Mein Dad sieht mich fassungslos an.
"Jetzt guck nicht so! Ich muss auch damit leben, dass sie..."
Ehe ich weiter sprechen kann, ist mein Vater aufgestanden und hat mir eine geknallt.
"Sag nichts!", zischt er mich wütend an, während ich mir auf die Lippe beiße, um einen Schrei zu ersticken.
"Oh doch! Du hast gerade versucht dich umzubringen, da sag ich dann was!", entgegne ich und mein Vater tritt ein paar Schritte zurück.
"Geh schlafen, Grace.", sagt er leise und greift sich wieder an den Hals. "Geh."
Weil ich mich nicht von der Stelle bewege, nimmt mein Vater die Plastikflasche und wirft sie nach mir.
Mit Tränen in den Augen stapfe ich die Treppe hoch.
Die Tür lasse ich angelehnt, damit ich auch gleich wieder mitbekomme, wenn etwas sein sollte.
Stundenlang wälze ich mich in dem Bett rum, aber der Schlaf will mich nicht holen. Die Angst, dass mein Vater sich wieder umbringen will, ist viel zu groß und so bleibe ich wach, bis die Haustür zugeht und mein Vater zur Arbeit fährt.
Erst als das Autogeräusch verklungen ist, schaffe ich es die Augen zu schließen.

Ein Klingeln an der Tür reißt mich aus meinem Schlaf.
Ich höre eine Stimme, kann aber nicht verstehen, was die Person sagt.
Also ziehe ich mir kurz eine Jacke an und poltere die Treppe lautstark runter.
Bevor ich die Tür öffne, schaue ich aus dem Fenster, aber es ist nur Renée, die mich geweckt hat.
Kaum habe ich die Tür einen Spalt weit geöffnet, drückt sie die Tür weiter auf und ich lande in einer kräftigen Umarmung.
"Oh man, Grace. Ich hab erst jetzt davon erfahren. Es tut mir so unglaublich leid", seufzt sie und hat, als wir uns aus der Umarmung lösen, ganz feuchte Augen. Renée hat sich immer gut mit meiner Mutter verstanden.
Ich nicke, weil ich ehrlich gesagt nicht weiß, was ich dazu sagen soll.
Der Schmerz und die Trauer haben sich tief in mich zurückgezogen, aber auch wenn ich versuche, sie zu vergessen, schmerzt es doch, wenn ich mich an den Unfall erinnere. Dann graben sich Trauer und Schmerz aus meinem Inneren und beschatten mich ganz.

"Wie gehts dir?", fragt sie und mustert mich.
Ich zucke die Schultern. "Nicht sonderlich gut."
Sehr gerne hätte ich ihr von letzter Nacht erzählt, aber dann hätte mein Vater vielleicht in eine Psychiatrie müssen und das will ich nicht.
Ihn kann ich nicht auch noch verlieren.
"Weißt du was? Ich komme gleich nach der Schule zu dir und dann schauen wir unseren Lieblingsfilm mit dem heißen Typen, du weißt schon, an."
Ein Lächeln bildet sich auf meinem Gesicht.
Seit über vier Jahren haben wir einen Lieblingsfilm, in dem ein echt, um es in Renées Worten auszudrücken, heißer Schauspieler dabei ist. Mit dreizehn Jahren waren wir so verrückt nach ihm, dass wir stundenlang im Internet nach Bilder von ihm gesucht haben.
"Okay, bis nachher."
Renée umarmt mich noch mal, bevor sie sich auf den Weg zur Schule macht.

Die zehnte GabeDonde viven las historias. Descúbrelo ahora