Kapitel 65

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Liams Sicht

Ich grabe meine Füße in den Sand, während ich meine Augen schließe und tief Luft hole. Tränen brennen in meinen Augen und ich kann nicht verhindern, dass sich eine einzelne über meine Wange bahnt. Mit meinen Fingern streiche ich über ihre Stirn und runter zu ihren Augen.
Selbst wenn ich die Augen geschlossen habe, spüre ich die weichen Konturen ihres Gesichtes. Zart fahre ich über ihre geschlossen Augen und wünsche mir, dass sie sich einfach nur wieder öffnen sollen.

"Ich liebe dich."
Diese Worte hallen endlos in meinem Kopf nach und ich wünsche mir sehnlichst die Zeit zurück zu drehen. Ich sollte sterben! Doch nicht sie! Sie hat es nicht verdient! Ich habe so viele Fehler gemacht, da hätte ich es verdient. Aber sie, sie war unschuldig. Was hatte sie sich gedacht, dass sie sich einfach vor mich gestürzt hat? Das kann doch einfach nicht wahr sein!

Verzweifelt fahre ich mir durch die Haare und lasse die letzten paar Minuten revue passieren.

Wie alles so schnell ging, dass ich noch ganz geschockt und wie erstarrt war, als sich der bedrohliche Lauf der Pistole auf mich gerichtet hat. Wie ich von ihr zur Seite gestoßen wurde und nicht mal eine Sekunde später ihren qualvollen Schrei gehört habe. Wie sie umgefallen war, während Renée und Lukas dazu gekommen waren. Wie Lukas dem 'Bösen' mit seiner Gabe die Pistole abgenommen hat und wie Renée und er ihn schnell mit Mayas Hilfe gefesselt hatten. Wie der 'Böse' mich angestrahlt hatte und mir zugeflüstert hatte: "Jetzt habe ich dir alles genommen!". Wie er mich gehässig gemustert hatte, bevor Lukas, das hätte ich nie von ihm gedacht, die Pistole direkt an des 'Bösen' Brust gesetzt und gnadenlos abgedrückt hat. Wie ich zu ihr gerannt war und die gigantische Blutlache gesehen habe. Wie sie mir in die Augen geschaut hat, aber doch durch mich hindurch...

"Du bist Schuld!", schreit mich auf einmal jemand an und ich schrecke zusammen. Mit zitternden Fingern spiele ich mit einer ihrer braunen Haarsträhnen, bevor ich in Lukas eiskalt blaue Augen starre.

"Schieb die Schuld ruhig auf mich", meine ich verbissen, auch wenn wirklich Schuldgefühle in mir brodeln. Hat er Recht? Ist sie wegen mir gestorben? "Ich war wenigstens nicht der, der sich mit den anderen gestritten hat, als sie.." Ich lasse den Satz unvollständig, da ich es nicht schaffen würde es auszusprechen. Lukas Augen nehmen einen wütenden Ausdruck an und funkeln gefährlich, als würde er mir liebend gerne den Hals umdrehen. Doch er beugt sich nur zu mir runter und krallt seine Hand in meine Schulter.

"Ohne dich würde sie noch leben!", zischt er mir zu. "Ohne dich wären wir beide schon glücklich."

Ich verziehe das Gesicht. Wenn sie überlebt hätte, hätte sie Lukas heiraten müssen und dagegen hätte ich nichts machen können. Jetzt ist sie frei.

"Sie würde mir gehören, aber das wolltest du nicht einsehen und deshalb musste sie sterben.", wirft er mir vor und sein Blick gleitet besitzergreifend über ihren Körper. Als sich alles in mir zusammen zieht, springe ich auf und packe ihn am Hals. "Sie gehört niemandem!", meine ich wütend und verstärke den Druck an seinem Hals. "Sie ist kein Gegenstand!"

Lukas zieht geschickt eine Augenbraue hoch. "Man könnte fast meinen, dass dir etwas an ihr lag. Vielleicht hast du dir ja einen Aufstieg zu den 'Reichen' erhofft." Ich schlucke einmal kräftig und muss mich beherrschen ihm nicht ganz den Atemweg abzuschneiden. Niemand außer ihr selbst wusste, was sie mir bedeutete. Der 'Böse' war auch auf der richtigen Spur, da er gemeint hat, dass er mir alles genommen hat. Und das hat er zweifellos auch. Durch eine verdammte Kugel hat er sie mir einfach entrissen! Ich schüttele den Kopf und konzentriere mich wieder auf Lukas.

"Normalo ist im Schweigen versunken",meint er und grinst amüsant. Wie kann er jetzt noch ein Grinsen zustande bekommen?

"Sie hat dir nie etwas bedeutet!", stelle ich schockiert fest. Hatte er ihr die ganze Zeit bloß etwas vorgespielt? Lukas macht einen entsetzten Gesichtsausdruck. "Wie kommst du auf so was? Natürlich..."

"Nein!", ertönt Renées zerbrochene Stimme und wir lenken beide unsere Aufmerksamkeit auf sie. Vorsichtig, als könnte Grace sich unter ihren Fingern in Luft auflösen, streicht Renée über ihr Gesicht.

"Bitte Grace!", weint sie und ein Bach fließt unaufhaltsam von ihren Augen, über ihre Wangen und tropft in den Sand. "Wach auf!"

Lange bleibt Renée reglos sitzen, dann bricht sie wortwörtlich zusammen. Ehe ich mich versehen habe, hat Lukas sich aus meinem Griff gelöst und ist zu ihr gestürzt. Und dem soll etwas an ihr gelegen haben!

Kopfschüttelnd betrachte ich, wie Lukas Renée in seine Arme schließt und beruhigend auf sie einredet.
Ich lasse meinen Blick zu Ariane gleiten, die hierher schaut und versucht ihre Tränen zu stoppen.
Steven hingegen hat sich ganz klein gemacht und wippt mit seinen Füßen vor und zurück, wobei er immer wieder Sand aufwühlt.
Ich setze mich wieder hin und nehme Grace in meine Arme. Lange betrachte ich sie, wie sie so friedlich aussieht, als würde sie nur schlafen, aber das ganze Blut an meinen Händen und ihr rot gefärbtes T-Shirt, sowie das getrocknete Blut auf ihren Armen weißen auf etwas anderes hin.

Zart streiche ich durch ihre braunen Haare und merke sekündlich, wie ich zerbreche, wie ein Glas mit einem Sprung. Ich bin ein Rest aus blutbeschmierten Scherben. Zerstört und verloren und am Boden liegend.

Und das nur, weil man mir sie genommen hat. Ich musste bloß ihre Augen sehen und schon war ich der glücklichste Mensch auf ganz Onaria.
Jede, vielleicht noch so unabsichtliche, Berührung hat mir Kraft gegeben und mir immer wieder geholfen dem Zwang des 'Bösen' zu widerstehen. Sie hat mich zum Guten gelenkt und jedes Mal, wenn ich in ihren Augen die verlorene Vertrautheit zu mir gesehen habe, hätte ich ihr nur zu gerne gezeigt, dass ich alles Ernst gemeint habe, jedes noch so kleine Gefühl für sie.

"W-wir soll...ten auch mal wieder gehen.", versucht Ariane mit lauter Stimme zu sagen, doch das schlägt fehl.
Lukas murmelt etwas, aber ich beachte weder ihn, noch die anderen.
"Hey, Grünauge!", ruft mir plötzlich jemand zu und entreißt mir Grace.
Hastig springe ich auf und versuche zu ihr zu kommen, aber Lukas läuft einfach mit ihr weg.
Ariane hebt mich fest, gibt Renée ein Zeichen und schon stehen wir bei den 'Reichen'.

Keine Stunde später sitze ich auf meinem Bett, den Kopf in die Hände gestützt.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Ohne auf meine Antwort zu warten, betritt Renée das Zimmer. Verwirrt betrachte ich, wie sie sich schweigend umsieht, sich auf einen Stuhl setzt und nervös mit ihren Fingern spielt.
"Jemand muss es ihrem Vater sagen", durchbricht sie die Stille.
Ich schüttele den Kopf.
"Ich ganz sicher nicht. Außerdem bin ich für ihn nur der Nachhilfelehrer."

Ein kleines Lächeln umspielt Renées Mund, aber schnell fasst sie sich wieder.
"Lukas kümmert sich um die Angelegenheit mit der Polizei, da es merkwürdig wäre, wenn aufeinmal eine Leiche auftaucht und weil sein Vater eine Menge Einfluss hat, überlassen wir das ihm. Ariane und Steven machen irgendetwas, damit sie beerdigt wird, aber ich habe nicht verstanden, was sie da alles machen müssen. Und wir..."
Sie lässt es einfach in der Luft hängen und ich nicke leicht.
"Wo ist Maya?", frage ich neugierig.

"Dieses kleine Mädchen? Bei Steven und Ariane, so weit ich weiß."
"Gut.", murmele ich und erhebe mich.
Während Renée wie ein Wasserfall redet, laufen wir zu den 'Reichen'.
"...und das ist voll...wir sind da.", bekomme ich mit und Renée zeigt zu dem Haus. Ich will mit 'Ich weiß' antworten, aber Renée zieht mich schon mit und drückt auf die silberne Klingel.
Eine laute Melodie ertönt im Haus und ein "Komme gleich!"hallt zu uns.

Renée zupft nervös an ihren Haaren und steckt mich damit an, weshalb ich auch unruhig werde.
"Wo ist sie eigentlich?", frage ich plötzlich.
Renée dreht den Kopf zu mir und mustert mich.
"Ariane hat sie an einen, wie hat sie es gesagt, sicheren Ort gebracht? Übrigens, du hast Blut im Gesicht."

Eilig wische ich es mir mit Renées Anweisungen, wie 'weiter rechts' weg und hoffe, dass nicht auch nur noch ein Fleck mein Gesicht ziert.
Ich lasse gerade die Hand wieder sinken, als die Tür aufgerissen wird und Graces Vater erscheint.
Verunsichert blickt er zwischen Renée und mir hin und her.
"Renée? Und...normaler Nachhilfelehrer?"
"Ja, genau, aber Sie können ihn ruhig Liam nennen.", meint Renée und setzt ein Lächeln auf. "Haben Sie ein wenig Zeit für uns?"
Der Mann öffnet einladend die Tür.
"Natürlich.", antwortet er und betont die Einladung mit einer Handbewegung. "Wisst ihr eigentlich wo Grace schon wieder ist?"

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now