Kapitel 31

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Kaum klingelt es, stürme ich zu meinem Schließfach und halte Ausschau nach Jack. Jetzt ist der dran. Die letzten paar Stunden habe ich mir überlegt, was ich ihm sagen kann und habe mir auch schon gute Worte zurecht gelegt, als er aber mit einem Grinsen um die Ecke biegt und zu seinem Schließfach läuft, ist mein Kopf wie leer.
Okay, jetzt bloß nicht Angst zeigen!

Ich laufe ganz normal durch den Gang, bleibe aber bei Jacks Schließfach stehen.
Anstatt etwas zu sagen, hole ich Schwung und treffe ihn mit voller Wucht am Hinterkopf.

Schlagartig wird es auf dem Gang ruhig.
Ich schaue mich nicht um, weil mich das bloß nervös machen würde, also richte ich meinen Blick stur auf Jacks Hinterkopf, der sich mittlerweile dreht und sein wutentbranntes Gesicht frei gibt.
"Womit habe ich die Ehre?", fragt er und erntet einen weiteren Schlag, dieses Mal direkt in sein zugegeben relativ hübsches Gesicht.
"Mit meiner Faust", sage ich und höre einige lachen.
Jedoch scheint Jack das aber alles andere als lustig zu finden.
Sein Gesicht verzieht sich zu einer sehr wütenden Grimasse und sein Kiefer zuckt immer wieder, als müsste er sich zusammen reißen, mich nicht vor allen anderen anzuschreien und dadurch seinen Ruf zu verschlechtern.
Aber der Tatsache scheint er sich auch bewusst zu sein. Also will er es auf typische Jungsart regeln und hebt seine Hand zum Gegenschlag an. Aber so dumm bin ich auch nicht, dass mir nicht klar war, dass er mich auch verprügeln wird. Vorbereitet greife ich nach dem Pfefferspray in meiner rechten Jackentasche.

Seine Hand schießt wie in Zeitlupe auf mich zu und ich will gerade das Spray aus der Tasche holen, als auf einmal eine Hand Jacks Faust bremst und sie mit viel Wucht gegen das Schließfach drückt.
Jack verzieht zwar das Gesicht kurz, kann dann aber sein Lachen nicht mehr unterdrücken.
"Oh wie süß. Retter in Not!", bringt er zwischen seinem Gelache heraus.
Ich beiße auf meine Unterlippe, um ein Gefluche zu unterdrücken, als ich mich zu Lukas umdrehe.
Langsam breitet sich Gelächter im Gang aus. Und ich weiß ganz genau, dass gerade nicht Jack ausgelacht wird. Und über Lukas würde nie jemand lachen.
Mir schießen Tränen in die Augen. Warum muss Lukas aber auch eingreifen? Die Nachricht 'Wisst ihrs schon? Jack hat eine Schwäche für Pfeffersprays!' hätte mir vollkommen gereicht.
Aber nicht die 'Grace hat geglaubt, dass sie Jack verprügeln kann, aber als es dann schwer wurde, hat sie Hilfe benötigt.'-Nachricht.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten, während ich, ohne mich auch noch einmal umzudrehen, dass Schulgebäude verlasse.

Ich habe gerade mal die Treppe hinter mir gelassen, als ich Lukas Stimme hinter mir höre.
"Grace, warte!"
Ich laufe weiter.
Doch dann packt er mich am Arm und zwingt mich dazu, stehen zu bleiben.
"Jetzt warte doch mal."
Schweigend schaue ich ihn an.
"Okay, gut. Was war das denn gerade?", fragt Lukas und grinst, als würde er es mir nicht zutrauen, dass ich Jack verprügeln kann.

Das ist zu viel für mich.
Verzweifelt versuche ich Tränen zurückzuhalten.
"Grace, wolltest du etwa Jack verprügeln? Ich will gar nicht wissen, ob du danach drei oder vier Brüche gehabt hättest."
Lukas versucht ein Grinsen zurückzudrängen, was ihm aber nicht gelingt.
"Nehms mir nicht übel, aber Jack ist echt eine Nummer zu groß für dich."

Wütend entreiße ich ihm meinen Arm.
"Eine Nummer zu groß für mich? Falls du es nicht kapiert hast, ich bin kein Kleinkind mehr, das sich nicht selber wehren kann. Dazu brauche ich nicht dich! Außerdem hat er mich gerade durch dich vor der ganzen Schule gedemütigt!"
"Ich wollte dir bloß helfen", verteidigt Lukas sich.
"Spitze gemacht", zische ich ihn an und laufe einfach weg.
Deutlich spüre ich seinen Blick in meinem Rücken, aber er hält mich nicht zurück oder entschuldigt sich. Aber muss er sich entschuldigen oder doch ich? Dafür, dass ich ihn so angemotzt habe?

Wütend auf mich und meinen blöden Gedanken, dass ich Jack verprügeln wollte, knalle ich lautstark die Tür zu, bleibe aber gleich wie erstarrt stehen, als ich Musik höre. Und es ist nicht irgendeine Musik. Nein, da spielt jemand auf meinem Klavier. Mein Klavier ist mein Heiligtum, wenn man es so sehen will. Und weil ich es über alles liebe, erkenne ich sogar schon vom Klang her, dass es mein Klavier ist. Okay, wir besitzen auch nur eins.
Aber mir ist es gerade egal, dass jemand ohne gefragt zu haben, auf meinem Klavier spielt. Die Tatsache, dass ich nicht weiß und auch keine Ahnung habe, wer 'jemand' ist beunruhigt mich mehr, als der Gedanke, dass diese Person als erste, abgesehen von mir, mein Klavier berührt hat. Nicht mal Dad oder Mum haben es angefasst.
Sie hatten ja auch nie einen Grund dazu, immerhin können sie beide nicht darauf spielen.

So leise wie möglich krame ich nach einem schweren Buch in der Tasche, damit ich mich mit diesem Buch dann bewaffnen kann.
Möglichst leise schleiche ich, mit beiden Händen mein Mathebuch umklammernd, die Treppen hoch und achte darauf, die Treppenstufen die knarren, nicht zu betreten.

Ist es jetzt peinlich, wenn ich sage, dass ich Angst habe? Oder ist es normal? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich definitiv Angst habe. Mein Herz pocht und droht fast von dem ganzen Pochen zu platzen. Oder es gibt einfach den Geist auf.
Ich lehne mich an die Wand und schließe die Augen um mich auf meinen Herzschlag zu konzentrieren. Demnächst werde ich echt noch an einem Herzinfarkt sterben, vielleicht sogar genau jetzt.
Meine rechte Hand rutscht am Buch ab und ich greife schnell danach, bevor es auf den Boden fällt.

Wer auch immer in meinem zweiten Zimmer ist, benutzt nicht nur mein Klavier, sondern auch meine selbst komponierten Stücke.
Ich kenne diese Stücke in und auswendig und würde am liebsten mitsummen, aber das würde mich verraten.
Meine eiskalte Hand greift an den kalten Türgriff und ich habe das Gefühl, dass sie einen Wettbewerb ums kälter sein veranstalten. Wobei meine Hand definitiv gewinnt.
Einmal hole ich noch tief Luft, dann öffne ich die Tür mit ordentlich Schwung.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now