Kapitel 64

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Die Hand des 'Bösen', in der er die Pistole hält, zuckt kurz und ich starre wie hypnotisiert auf sie.
Ich brauche nur eine Sekunde, bis mein Gehirn endlich kapiert, was der 'Böse' meint. Wertlose Leute bringt er um und Liam ist für ihn wertlos! Ich blicke von der Waffe zu Liam, der von nichts weiß und wieder zurück. Das wird er nicht machen! Ich muss das irgendwie verhindern. Bis meine Gabe mir helfen könnte, wird der 'Böse' schon seine Pistole auf Liam gerichtet haben. Planlos und in Panik mache ich einen kleinen zögerlichen Schritt, dann noch einen.

Ehe ich etwas dagegen machen kann, renne ich auf Liam zu. Meine Schritte hallen laut in meinem Kopf und ich bin total fixiert auf die Hand, welche die Pistole noch fester gegen Mayas Kopf drückt. Dann auf einmal richtet sich der Lauf mit Schwung in Liams Richtung und der Finger verharrt auf dem Auslöser.

Liam blickt wie erstarrt direkt in das schwarze Loch und versucht zu verstehen, was hier gerade passiert.
In dem Moment, in dem der Finger auf dem Auslöser abdrückt, der Hebel kurz nach hinten weicht und ein leises Klacken ertönt, das in dem lauten Knall untergeht, erreiche ich Liam und schiebe ihn kraftvoll zur Seite.

Dann ertönt ein qualvoller Schrei, der für eine Gänsehaut bei mir sorgt. Ein lautes unauflösbares Piepsen erklingt und ich brauche mehrere Sekunden, bis ich kapiere, dass ich die Person bin, die so schreit. Ein unglaublich beißender Schmerz explodiert in meiner Schulter und ich senke wie in Trance den Blick. Das eigentlich blaue T-Shirt hat einen komischen dunklen Fleck an meiner linken Schulter und das T-Shirt weißt ein winziges Loch auf, wodurch ich meine zerrissene Haut und das ganze Blut sehe. Das Piepsen wird sekündlich schlimmer und mein Blick verschwimmt. Alles fängt an sich zu drehen und ich will mich irgendwo festhalten, aber da ist nichts. Nur Leere.

Meine Beine knicken ein und ich kippe einfach um. Als mein Kopf unaufgehalten auf den harten Boden knallt, verstummt das Piepsen schlagartig und ich höre nichts. Ich sehe aber auch nichts, obwohl meine Augen weit geöffnet sind. Der Schmerz verbreitet sich von der Schulter über meinen ganzen Körper und das Bedürfnis mich unter den Schmerzen zu winden, kann ich zurückhalten, da ich gerade zu schwach bin.
Plötzlich höre ich lautes Geschrei. Renée, Liam und Lukas schreien alle wild durcheinander. Mehrere Hände greifen nach mir und ziehen mich vorsichtig hoch.

"...du mich?", höre ich Renée fragen, aber ihre Stimme klingt so weit weg, dass ich das Gefühl habe, sie stünde in einem anderen Raum als ich. Ich öffne den Mund für eine Antwort, aber es kommt nichts raus. Ein Arm schlingt sich um mich und das Prickeln verrät mir, dass es Liam ist. Erleichterung breitet sich in mir aus. Liam, er lebt. Und der 'Böse'?

"Maya!", ruft Liam, aber auch er ist so weit weg. Hände greifen nach meiner Schulter und sofort schießt eine angenehme Wärme durch mich hindurch. Die Wärme trifft auf den Schmerz, der eine feste Mauer gebaut hat und nicht zurückweichen will. Ich spüre wie sie gegeneinander kämpfen, doch allmählich gewinnt der Schmerz und begräbt die Wärme unter sich.
Die Hände an der Schulter lösen sich zögernd und ich höre einen verzweifelten Schrei, kann ihn aber niemandem zuordnen. Mein Kopf wird jede Sekunde mehr von einem Nebel verschleiert und ich versuche mit meiner letzten Kraft diesen Nebel und den Schmerz zu verdrängen, aber sie haben schnell die Oberhand.
Ich lasse mich von ihnen treiben und sie übernehmen mich ganz.
Kraftlos erschlafft mein Körper und der Griff von Liams Armen wird stärker.

"...an das Meer", erklingt Renées weinerliche Stimme. Dann heben mich Liams Arme hoch und ich bekomme das Gefühl zu fliegen, frei in der Luft zu schweben. Mein Kopf kippt zur Seite und ich kann wieder sehen. Verschwommen nehme ich ich den steinigen Platz, der zum Meer führt, wahr. An den Felsen im Sand sehe ich einen blonden Haarschopf, den ich Ariane zuornde und einen dunklen, der Steven gehört. Vorsichtig drehe ich den Kopf, wobei sich mein ganzer Körper wegen den Schmerzen verkrampft.
"Grace", redet Liam auf mich ein. "Halt durch."
Immer wieder spricht er beruhigend auf mich ein, aber ich nehme seine Worte gar nicht wahr. Ich schaue nur in seine grünen glänzenden Augen und verhake mich in seinem Blick, während der Sand unter Liams Füßen knirscht. Angst und Hilflosigkeit spiegelt sich in seinen Augen und ich würde nur zu gerne diesen Ausdruck für die freudig strahlenden Augen ersetzen, für das Grün, das mit der hellsten Wiese um die Wette gestrahlt hat. Jetzt belegt ein dunkler Schatten Liams Gesicht, der auch in seinen Augen schimmert.

Als sich der dunkle Grünton auf mich richtet, macht mein Herz einen Sprung. Eine wohlige Wärme umschließt mein Herz, das furchtbar schnell pocht und das Blut pulsiert in meinen Adern.

"Oh mein Gott!", kreischt Ariane plötzlich und ich drehe so schnell ich kann meinen Kopf zu ihr. Doch sie starrt direkt mich an und läuft eilig zu mir, Steven ist ihr dicht auf den Fersen. "Was ist passiert?"
Sie hat es zu mir geschafft und greift nach meiner Hand.
Liam schiebt sie jedoch kurzerhand zurück und nähert sich schnell dem Meer. Leise vernehme ich das wundervolle Rauschen und das Plätschern, als Liam das Wasser betreten hat und immer tiefer hinein watet.
Erst als das Wasser meine Füße berührt, bleibt Liam stehen und schaut mich geduldig an.
Kaum erreicht das angenehme Wasser meinen Schuh,durchschießt ein Ruck meinen Körper.

Zuerst glaube ich, dass der Schmerz weicht, aber er drängt meine Gabe eilig von mir, während mein Inneres die Hände nach meiner Gabe ausstreckt und sie bei mir festhalten will.
Doch der Schmerz ist stärker. Er überrollt mich wie eine Flutwelle und ich keuche kurz, weil er so an mir nagt und sich in meinen ganzen Körper beißt.
Aus dem Hintergrund höre ich wild durcheinander schreiende Stimmen, aber Liam bleibt ganz ruhig und fixiert sich nur auf mich, als warte er darauf, dass meine Gabe mir hilft.
Liams Hand gleitet von meinem Rücken zu meinem Kopf und drückt ihn an seine Brust. Ich lausche seinem schnellen Herzschlag, bis ein Zucken durch meinen Körper flutet und ich mich panisch an seinem T-Shirt festkralle, während ich die Augen schließe und die Lippen zusammenpresse, damit ich nicht schreie.

So langsam spüre ich, wie meine letzte Kraft mich verlässt und auch Liam scheint es zu merken, da sein Körper sich anspannt.
"Grace, bleib bei mir, bitte.", fleht er und ich versuche meine Augen zu öffnen, aber ich bin zu schwach. Es ist, als würden Steine auf meinen Lidern liegen, die verhindern, dass ich sie aufklappe.
Meine Hand, die sich in den nassen Stoff seines T-Shirts gegraben hat, löst sich erschöpft und ich taste mich von seinem T-Shirt über das Kinn zu seinen hohen Wangenknochen hoch.
Mit meinem Daumen fahre ich quälend langsam über seine Wange und öffne meinen Mund für die Worte, die ich noch sagen muss.
Ich muss es einfach noch schaffen. Ich habe es ihm verschwiegen, weil ich Angst hatte, dass er wieder nur mit mir spielt, aber jetzt weiß ich sicher, dass er es nicht gemacht hat. Und nun ist es zu spät.
Wie in Zeitlupe öffne ich den Mund und hoffe, dass nicht nur ein Krächzen rauskommt, sondern dass er mich versteht. Alles in mir schreit danach, es ihm endlich zu sagen, es zerreißt mich fast.

"I-ich...", fange ich mit brüchiger Stimme an, "...liebe dich", flüstere ich, da es nicht zu mehr reicht. Ich würde liebend gerne Liams Gesicht sehen, ein letztes Mal diese wundervollen Augen, das perfekte Gesicht sehen, aber mein Kopf kippt kraftlos nach hinten.
"Grace?", fragt Liam plötzlich panisch. "Bleib bei mir! Versuch es mit deiner Gabe."
Alles in mir lechzt nach meiner letzten Kraft, aber sie verlässt unaufhaltsam in schwachen Strömen meinen Körper. Meine Gabe kann mir nicht helfen.
Ich hole ein letztes Mal Luft und stoße sie rasselnd wieder aus, dann erschlafft mein ganzer Körper und die Welt hält still. Alles ist ganz ruhig für eine Sekunde.
"Ich liebe dich auch."
Zart streicht noch ein Hauch von Liams Atem über meine Stirn, dann erklingt der letzte Schlag meines Herzens.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now