Kapitel 21

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Ich will mich gerade in der Küche auf Essenssuche machen, als mir ein kleiner, kartierter Zettel, der auf dem Küchentisch liegt, auffällt.
Stirnrunzelnd greife ich nach ihm und erkenne die unschöne Handschrift meines Vaters.

Es tut mir leid, Grace. Ich kann nicht ohne sie leben. Ich muss zu ihr. Hoffentlich verstehst du das.
Dein dich liebender Vater ♥

Ich schlucke. Den Zettel hat mein Vater geschrieben, bevor er sich erhängen wollte.
Ich lasse die Hand sinken und setze mich auf den Stuhl.
Scheiß Leben. Einfach nur scheiße.
Ich stütze den Kopf in meine Hände und fahre mir wild durch die Haare, während eine Träne sich den Weg aus meinem Auge bahnt.
Weil ich fast verrückt werde, schnappe ich mir meine Jacke und laufe zu Renées und meinem Lieblingsplatz.

Lange sitze ich nur hier auf der Mauer und schaue auf das Meer. Und irgendwie habe ich es sogar geschafft, die Zeit zu vergessen.
Ich will gerade aufstehen und von der Mauer klettern, als ich durch eine Stimme erstarre.
"Och komm Liam", fleht eine junge Mädchenstimme.
Ich drehe mich um und sehe, keine dreißig Meter von mir entfernt, ein etwa 14-jähriges Mädchen, das mit Liam streitet.
Mein Herz beginnt wie verrückt zu pochen und ich habe das Gefühl, dass es gleich zerspringt.
"Nein, wie oft noch? Ich mache das nicht mehr!", brüllt Liam das Mädchen an, welche zusammenzuckt und einen Schritt nach hinten weicht.
Ihre Angst vor ihm ist nicht zu übersehen. Den Kopf eingezogen, die Beine wie zum Wegrennen gedreht. Dass Liam so furchteinflößend ist, habe ich nun wirklich nicht erwartet.
"Ich brauch es aber", widerspricht sie, aber so leise, dass ich sie kaum verstehe.

"Ich mache da nicht mehr mit! Das weißt du!", zischt Liam ihr wütend zu.
Das Mädchen fängt an zu zittern, was für mich echt zu viel ist.
Ich klettere von der Mauer und laufe auf Liam zu, der sich dem Mädchen bedrohlich nähert.
"Bitte!", fleht sie und Liam hebt wütend eine Hand.
"Nein. Und jetzt hau ab, bevor ich mich vergesse."
"Ich sterbe ohne das Zeug!", schreit das Mädchen und jetzt kapiere ich echt nichts mehr.

"Hey, Idiot!", begrüße ich ihn und habe auch gleich zwei Augenpaare auf mir liegen.
Liam flucht leise und schaut mich böse an.
"Hau ab!", zischt er mir zu.
"Nein. Nicht wenn ich nicht weiß, was hier vor sich geht.", erwidere ich.
Liam läuft auf mich zu.
"Geh!"
"Muss ich mich wiederholen?", frage ich gelangweilt.
Dann wird sein Blick langsam weicher.
"Bitte Grace! Geh", sagt er ganz weich und man hätte nie angenommen, dass er mich noch vor zehn Sekunden wütend aufgefordert hat, zu gehen.
"Erklär mir, was hier los ist!"
"Das kann ich nicht", gesteht Liam und schaut zu dem Mädchen, das die ganze Zeit nur zittert.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und halte Liams bohrendem Blick stand.

"Gib es mir einfach", meldet sich das Mädchen wieder und zieht meinen Blick auf sich. Liam jedoch schaut mich wie gestört an. "Ich brauche es."
"Gibs ihr", fordere ich von Liam. "Ich bezahle es auch, wenn es etwas kostet."
Liam schüttelt den Kopf.
"Grace, du verstehst das nicht. Es ist kein Medikament oder so was ähnliches. Sie braucht es nicht, um zu überleben."
"Na und? Gib es, was auch immer es ist, ihr!"
Liam dreht sich um und schaut das Mädchen an, als würde er sie auf der Stelle umbringen.
Dann zieht er eine Tüte aus der Jackentasche und streckt sie dem Mädchen hin.
"Willst du das? Na, willst du es?", fragt er und neckt das Mädchen, das nach der Tüte greift.
Doch anstatt ihr die Tüte zu geben, verpasst er ihr eine Ohrfeige, sodass ein Abdruck auf der Wange zurückbleibt. Das Mädchen weicht zurück und schaut ihn geschockt an.
"Liam-"
"Grace, sei ruhig! Ich erklär es dir gleich!", fährt Liam mich an.
Das Mädchen zischt Liam etwas zu, dreht sich um und rennt schnell über das Feld auf die Stadt zu.

Liam lässt den Arm mit der Tüte sinken und atmet laut ein, bevor er sich zu mir umdreht.
"Was-"
"Nein! Sei ruhig!", unterbricht mich Liam erneut.
Er läuft an mir vorbei zur Mauer und setzt sich auf meinen Lieblingsplatz.
Ich folge ihm und setze mich neben ihn.
Lange schaut er nur auf das Meer, bevor er anfängt zu sprechen.
"Wo soll ich anfangen?", fragt er.
"Erzähl einfach alles."
"Kennst du Drogen?"
Auf einmal wird mir alles klar und ich springe auf.
"Du bist ... Drogendealer?", frage ich fassungslos.
Liam schaut zu mir hoch.
"War. Ich war Drogendealer. Ich mache das eigentlich schon seit zwei Monaten nicht mehr, deshalb versteh ich auch nicht, warum Mary jetzt Drogen von mir wollte."
"Mary ist das Mädchen?"
"Ja. Und hätte ich ihr das Zeugs gegeben, dann hätte ich das Geschäft wieder am Hals."
Ich nicke und setze mich wieder neben ihn.

Lange schauen wir schweigend auf das Meer.
"Ich habe früher selbst massenweise Drogen genommen. Aber ich bin nie von einem Hochhaus gesprungen."
"Schade", sage ich und hänge noch ein Seufzen hinterher.
Liam lacht.
"Du kannst mich echt nicht ausstehen, oder? Aber weißt du, was ich denke? Ich denke, dass du nur so unfreundlich zu mir bist, weil du Angst hast, dass mehr aus uns werden kann."
"Frag mich echt, wie du auf so bekloppte Gedanken kommst.", sage ich und lächle.
Liam senkt den Blick.
"Ich war noch nie verliebt", gesteht er.
"Und es wird sich auch niemand in dich verlieben."
"Du bist die einzige, die mir bis jetzt widersteht."
O ja, das glaube ich ihm. Er ist, genau wie Lukas, ein typischer Mädchenschwarm.
"Und dich bekomme ich auch noch."
"Zu selbstsicher", bringe ich zwischen den Lippen hervor.
"Nein, das werde ich superschnell hinbekommen."
Liam grinst und ich verdrehe die Augen.
"Wird schwer werden, weil ich dich nicht ausstehen kann."
"Wer weiß? Vielleicht sieht Miss Reich noch ein, dass ich unwiderstehlich bin", sagt Liam und schaut mich genau an.
"Und noch selbstverliebt."
Liam grinst.
"Der perfekte Junge weiß, was er zu bieten hat."
Sein Grinsen wird größer und ich schaue schnell auf das Meer.
"Einfach nur widerlich."
"Du hast 'un' und 'steh' vergessen."
Ich schließe die Augen.
"Nein. Ich habe nichts vergessen."
Liam macht einen Schmollmund.
"Stimmt, könnte schwer werden."

Mit den Worten steht er auf und springt lässig von der Mauer. Obwohl ich die Mauer schon seit über zehn Jahren kenne, habe ich mich nicht getraut, je von ihr zu springen, weil ich es schaffen würde, dadurch ins Krankenhaus zu kommen.
Bevor er wegläuft, dreht er sich um und grinst mich an.
"Bis bald, Miss Reich."
Genervt verdrehe ich die Augen.
"Tausche das 'bald' durch 'in vierzig Jahren' aus, dann bin ich zufrieden."
"Da bist du mir dann zu alt."
"Falls ich dich daran erinnern muss, du alterst auch."
Liam läuft rückwärts von mir weg.
"Aber ich werde für immer jung aussehen."
"Bezweifle ich."
Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, drehe ich mich um und schaue auf das endlose Meer.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now