Kapitel 39

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"Grace? Was ist los?", fragt Liam, aber ich drücke bloß auf 'Beenden' und seine Stimme verstummt.
Ich laufe zur Tür und öffne sie einen Spalt breit.
Im Dunkeln erkenne ich bloß einen Schatten, aber an der Gehensart ist es eindeutig mein Vater. Und er bückt sich, weil ihm etwas heruntergefallen ist. Na toll und ich habe schon Angst bekommen.
"Hallo Dad", sage ich und mein Vater zuckt kurz zusammen, bevor er sich zu mir umdreht und mich böse anschaut.
Jetzt versuche ich mal nett zu sein und ernte dafür nur einen bösen Blick!
"Na gut. Ich geh dann mal schlafen."
Ich mache die Tür wieder zu und lege mich in mein Bett.
Das war ja komisch. Die letzten paar Mal wollte er mit mir reden und ich bin abgehauen, weil ich seinen Anblick nicht vertragen konnte und jetzt ist es genau andersherum.
Ja klar, mit gebrochener Nase sehe ich bestimmt auch nicht so aus wie sonst immer.

Bevor ich schlafen gehe, putze ich noch meine Zähne und mache Renées Geburtstagsgeschenk fertig.
Dann schlafe ich endlich ein.

Der Regen von letzter Nacht ist ganz in Schnee übergangen und alles ist weiß überzuckert, als ich am nächsten Morgen den Vorhang zur Seite schiebe und aus dem Fenster schaue.
Schnell ziehe ich mich an und frühstücke, bevor ich in Richtung der Häuser der 'Normalen' laufen.
Ich will mit Liam trainieren, das habe ich beschlossen.

Lange muss ich warten, bis man mir nach dem Klingeln die Tür öffnet und so hochintelligent ich halt bin, habe ich nicht daran gedacht, dass Liam nicht ohne Familie hier wohnt.
Eine etwa vierzig jährige Frau macht lachend die Tür auf, aber als sie mich sieht, erstarrt sie wortwörtlich.
"Ähm...wie kann ich Ihnen helfen?", bringt sie nach mehreren Sekunden heraus.
Oh man, ich bin so dumm!
Jetzt brauche ich aber schnell eine Ausrede.
"Hallo, ich bin Grace, die Nachhilfeschülerin von Liam."
Ich halte ihr die Hand hin und sie drückt sie kurz.
"Ich habe gar nicht gewusst, dass Liam Nachhilfe gibt", murmelt sie und muss jetzt auch lächeln.
"Er ist ein erstklassiger Nachhilfelehrer", sage ich und die Frau lacht.
"Ja, das glaube ich. Wenn er sich für etwas interessiert und sich dafür einsetzt, ist das Ergebnis immer gut."
Herzlichen Dank! Ich wurde ernsthaft als Ergebnis bezeichnet!
"Oh ja, meine Noten sind in dem Fach schon viel besser geworden."
"Welches denn?"
Oh Mist! Was haben die 'Normalen' für Fächer?
"Ähm...Mathe", bringe ich dann noch mit fester Stimme hervor.
"Ach, in Mathe war er schon immer ein Talent."
Sie schaut kurz auf die Straße, bevor sie leicht rot wird.
"Oh man, wie unfreundlich von mir." Sie hält mir die Tür auf. "Wollen Sie rein, oder was wollen Sie?"
"Äh, nein, wir lernen immer draußen an der frischen Luft. Das...ist besser zum Denken. Aber er war nicht an dem Platz, an dem wir uns treffen wollten und deshalb wollte ich jetzt wissen, wo er ist."
"Er schläft noch. Ich wecke ihn kurz und sage ihm, dass Sie hier sind. Sie können es sich so lange im Wohnzimmer bequem machen."
Die Frau läuft ins Haus und zeigt mir, wo das Wohnzimmer ist.
Ich setze mich auf das Sofa, während die Frau, wahrscheinlich seine Mutter, ihn wecken geht.
Keine Minute später steht Liam total verpennt im Türrahmen. Naja, angezogen hat er sich, aber seine Haare sind ganz verwuschelt. Irgendwie sieht das richtig süß aus.
"Oh, stimmt. Sorry, dass ich es vergessen habe."
"Liam, ich kaufe dir irgendwann noch einen Wecker", sagt die Frau und verschwindet in einem anderen Zimmer, während ich vom Sofa aufstehe.
Kaum hat die Frau die Tür zugemacht, kann sich Liam sein typisches Grinsen nicht mehr verkneifen.
"Grace, was willst du hier?"
"Training", sage ich nur kurz.
Liam ist echt für ein paar Sekunden sprachlos.
"Okay, gut. Ich hole mir nur noch kurz eine Jacke, dann können wir gehen."
Er verschwindet für ein paar Sekunden, ist aber gleich wieder im Wohnzimmer und hält mir freundlich die Tür auf.

Kaum laufen wir durch den mit Schnee überdeckten Weg, fängt Liam an mich mit Fragen zu bombardieren.
"Wieso jetzt auf einmal? Was ist mit deiner Nase? Und hast du ernsthaft das mit der Nachhilfe als Vorwand genommen?"
Liam lacht.
"Ja, hab ich, auf deine erste Frage habe ich keine gescheite Antwort und meine Nase ist gebrochen."
"Treppe runtergefallen?", fragt Liam und macht sich über meine Tollpatschigkeit lustig.
"Ne, das noch nicht. Ich wurde verprügelt."

"Ach und deshalb das Training? Damit du dich mit deiner Gabe wehren kannst? Und sag mir bitte nicht, dass dein Freund dich verprügelt hat."
"Nein, natürlich nicht. Ich habe Jack mehr oder weniger verprügelt und das war halt seine Rache."
"Ach und damit das nächstes Mal nicht so ausgeht, willst du jetzt deine Gabe trainieren, damit du die einsetzen kannst", sagt Liam.
"Ja, wahrscheinlich ist es so", murmele ich und schaue auf die Spuren, die schon im Schnee sind und auf die Spur, die wir hinterlassen.
Wirklich viele waren noch nicht unterwegs, aber es ist ja gerade auch mal zehn Uhr. Da schlafen die meisten in den Ferien halt noch.
Wir lassen die Häuser und die Stadt hinter uns und da ich keine Ahnung habe, wohin Liam will, laufe ich ihm hinterher.
Auf einer weißen Wiese bleibt er stehen und schaut auf die Mauer, die nicht mehr weit weg ist. Vielleicht hundert Meter, aber mehr auch nicht und kein einziger Wache in Sicht.
"Wo willst du hin?", frage ich und Liam grinst.
"Ans Meer."

"Was? Es ist schon verboten sich der Mauer auch nur weniger als zwanzig Metern zu nähern und du willst hinter sie? Spinnst du?"
"Oh man, Grace, ich bin fast täglich hier. Es ist noch nie etwas passiert", versucht Liam mich zu überreden.
"Du bist aber nicht ich und es wird schon Gründe geben, warum wir nicht mehr an die Mauer sollen!", erinnere ich ihn.
"Ja klar, aber weißt du, dass bis jetzt immer nur im Süden Wachen an der Mauer verschwunden sind? Kein einziger hier im Norden ist weg. Nur im Süden."
"Ja, bis jetzt! Wer weiß, ob nicht hier schon seit einer Stunde Wachen auch verschwinden, man weiß es aber nur noch nicht."
"Och Grace. Natürlich ist es möglich, dass etwas passiert, aber wir können deine Gabe auch mit einer Flasche Wasser trainieren. Viel bringen wird das nichts."
"Idiot", zische ich, bevor ich mich der Mauer und dem kleinen Durchschlupfloch nähere.
Als ich das Loch erreicht habe und auf das Meer schauen kann, kann ich aber echt nicht widerstehen, näher an das Wasser zu kommen.
"Warst du schon einmal am Meer?", fragt Liam hinter mir.
Ich nicke mit dem Kopf und krabbele durch das Loch auf die kleine Wiese dahinter.
"Aber noch nie, als es geschneit hat", sage ich und trete direkt an das ruhige Wasser.
"Ich bin gerne hier", sagt Liam. "Hier war noch nie eine Wache."
"Direkt hier leben ja auch 'Arme'. Die werden ja nicht so bewacht wie wir 'Reichen' oder 'Normalen'", sage ich und Liam nickt.
"Fangen wir jetzt an?"

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now