Kapitel 61

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Zuerst bin ich erstarrt wie ein Eisklotz, doch als ich mir sicher bin, dass gleich ein Schrei, tief aus dem Inneren kommend, seinen Mund verlassen wird, handele ich eilig und in Panik, dass unser Plan schon jetzt daneben gehen könnte. In nicht mal einer Sekunde habe ich dem Mann eine Fessel aus Wasser, wie ich es ja in letzter Zeit schon oft gemacht hatte, um dem Mund verpasst, die sich einmal um seinen Kopf schlingt. Der Mann scheint nicht all zu schnell zu registrieren, was ich gemacht habe, da er anfangs noch versucht zu schreien, was jedoch nur gedämpft durchkommt und dann wie verrückt an der Fessel zieht, die aber nicht locker lässt, sondern nur noch fester wird. Wie in Zeitlupe lässt er seine Hände sinken und ein Zucken geht durch seinen Körper.

Diese dumme Kuh!, schreit er wütend in Gedanken und stürzt sich in der Sekunde darauf auf mich. In dem Moment reißt Renée die Tür auf, wobei sie genau den Kopf des Wachen trifft, der taumelt und durch einen kräftigen Schlag von mir vollends ohnmächtig wird. Renée wirft mir einen Grinsen zu, zuckt die Schultern und zieht den Wachen dann mit mir in Liams Zimmer.

Wir sind so vertieft in unsere Arbeit, also dem Wachen seine Rüstung auszuziehen, dass wir beide zusammen zucken, als Arianes Stimme ertönt.
"Grace, Renée, alles okay bei euch?", fragt sie durch das komische Sprech-Gerät und ich lege den Helm auf den Boden, damit ich ihr antworten kann. Ich greife nach hinten und fische das Gerät aus meiner Jackentasche, betrachte jedoch ein paar Sekunden später die verschiedenen Knöpfe. Links, hat Ariane gesagt.
Vorsichtig drücke ich auf den linken Knopf, der durch meinem Finger nach unten weicht.
"Ja, alles gut.", antworte ich und stecke das Gerät wieder ein. Mittlerweile hat Renée dem Wachen seine Rüstung ganz ausgezogen und schiebt ihn unter das Bett, damit er nicht gleich gefunden wird, wenn jemand das Zimmer betreten sollte.
Anschließend helfe ich ihr in die Rüstung zu schlüpfen, in der sie ziemlich klein und verloren wirkt. Schnell betrachte ich sie, während ich ihre heraushängenden Haarsträhnen unter den Helm klemme.
Dann trete ich zurück und begutachte meine beste Freundin.

"Grace?", fragt Renée leise.
Ich schaue ihr in die Augen und gebe ihr durch mein Nicken zu verstehen, dass sie ruhig weitersprechen soll.

Betreten schaut Renée auf die Seite und überlegt sich ihre nächsten Worten gut.

"Ich habe so furchtbare Angst, dass dir oder Lukas etwas passieren könnte.", gibt sie zu.
"Ich auch, aber mache dir keine Sorgen. Wir kommen gut zurecht und es wird bestimmt nichts passieren.", ermutige ich sie. "Und du kümmerst dich nur um dich selbst. Ich glaube nämlich nicht, dass deine Aufgabe einfach ist."

Renée nickt steif und setzt ein falsches Lächeln auf. "Okay.", murmelt sie und ich schließe sie in eine Umarmung.
"Bitte pass auf dich auf."
Renée löst sich ein wenig von mir, aber nur so, dass wir uns in die Augen schauen können. "Mach ich. Und du auf dich, okay?" Ich nicke bestätigend und ein echtes Lächeln umspielt ihren Mund.
"Gut, ich muss dann zu den anderen.", erinnere ich sie und keine drei Sekunden später sitze ich neben Ariane und Liam, welcher wütend auf das Meer starrt. Weil Renée nur sich mit anderen an einen Ort zaubern kann, landet sie auch noch kurz hier, verschwindet aber nach einem Nicken von Ariane zu ihrem vorgedachten Platz.

"Gut, jetzt müssen wir eine Weile warten. Ich habe Karten dabei, falls jemand Lust hat, sich die ganze Zeit sinnvoll zu vertreiben.", sagt Ariane und krustelt in ihrer Tasche herum.

"Wir werden nicht Karten spielen!", sage ich bestimmerisch und Ariane lässt doch tatsächlich ihre Tasche kurz los.
"Warum nicht?", fragt sie etwas schnippisch und zeigt angewidert auf Liam. "Sollen wir etwa genauso angepisst rumhocken wie Herr 'Ich bin so sauer auf die ganze Welt weil ich eine Geisel bin und starre deshalb stundenlang auf das Meer'?" Ich werfe einen kurzen Blick über die Schulter auf Liam, der schon den Mund zu einer Antwort geöffnet hat.
"Natürlich nicht.", sage ich schnell. "Aber es wäre besser, wenn wir uns auf den Plan konzentrieren und nicht auf irgendwelche Karten!" Ich kann mich nämlich ganz sicher nicht einfach vergnügen oder mich entspannen, wenn Renée jetzt ganze vier Stunden unter Feinden ist. Ariane verengt die Augen und holt zu ihrem Glück bloß eine Thermoskanne aus der Tasche.
"Aber Kaffee trinken werde ich und das auch ohne deine Zustimmung.", murmelt sie und schenkt sich ein wenig der Flüssigkeit in einen Becher, wodurch Dampf aufsteigt.

"Davon werde ich dich niemals abhalten können.", stimme ich zu und Ariane lacht leise, wodurch die unangenehme Spannung zwischen uns zusammenbricht.

Nach einer Weile, in der Ariane immer mal wieder einen Schluck Kaffee nimmt, ich genauso wie Lukas, der sich neben mich gesetzt und einen Arm um mich gelegt hat, auf das Meer starre und Liam, der irgendwelche Zeichen in den Sand malt, so gut es halt mit gefesselten Händen geht, ertönt ein Knacken und dann Renées Stimme. Sofort steigt Angst um sie in mir auf und ich kann nicht verhindern, dass ich nervös mit den Fingern knackse. Wirklich dumme Angewohnheit.
"Noch eine Stunde.", sagt sie und Ariane drückt auch gleich auf ihr Gerät.
"Gut. Wir fangen dann bald an.", antwortet sie und befestigt das Gerät an ihrer Hose.

Lukas hebt den Blick und schaut zu Ariane, die sich schon mal fertig macht, wobei sie das kleine Fläschlein Gift sicher in ihrer Jackentasche vergräbt.
"Also dann schleichen wir uns mal durch den Seiteneingang, den du nachher auch benutzt, Grace, rein.", erklärt Ariane, während Lukas sich erhebt.
Vor mir kniet er sich noch mal hin und nimmt meine Hand.
Sein Blick bohrt sich in meine Augen und ich habe das Gefühl, in seinen blauen Augen zu versinken.
"Geben Sie bitte Acht, Mademoiselle.", sagt er und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
"Sie selbstverständlich auch, Monsieur.", gebe ich zurück und Lukas beugt sich zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben, jedoch kommt er nicht dazu, da er von gefesselten Händen einen Schlag bekommt. Lukas will sich sofort auf Liam stürzen, aber Ariane zieht ihn weg von Liam.

"Also dann", sagt sie und zerrt an Lukas, um ihn von der Stelle zu bekommen. "...bis bald, Grace."
Lukas dreht sich nach ein paar Sekunden Blickkontakt mit Liam um und folgt vorsichtig Ariane, die geschickt zwischen den kleinen Felsen herumkriecht.

Langsam drehe ich mich zu Liam um, der sich mittlerweile neben mich gesetzt hat.
"Er ist ein Ar...", fängt er an.
"Sei ruhig!", unterbreche ich ihn. "Ich kann mir auch selber eine Meinung über Lukas bilden."
Liam beäugt mich von der Seite.
"Bei dem gibt es nur eine Meinung.", sagt er. "Genauso wie bei mir, nur das es das Gegenteil ist."
Grinsend schüttele ich den Kopf. "Du bist unmöglich."
Liam rückt näher zu mir. "Ach bin ich das? Ich bin nicht unmöglich, sondern perfekt.", verbessert er mich.
Gespielt geschockt schaue ich ihm in die grünen Augen. Oh man, was würde ich für diese wunderschönen Augen geben!
"Ich habe eigentlich gedacht, dass Lukas das ist und du einfach nur furchtbar..."
"Gelogen!", unterbricht Liam mich und ich verschränke die Arme vor der Brust. Diese Gabe ist einfach immer nützlich und ich frage mich echt, warum sie nicht auch im Kreis der 10 Gaben ist.

Betreten blicke ich lange schweigend auf den Sand, den ich unruhig mit meinen Füßen aufwirbele, aber nicht so hoch, dass er uns verraten würde.
Auf einmal beugt sich Liam zu mir und gibt mir grundlos einen Kuss auf die Wange, weshalb sich ein Prickeln in meinem Körper verbreitet.
"Wofür...", will ich fragen, aber ich werde durch ein Knacken unterbrochen, dass aus diesem komischen Gerät kommt.

"Grace? Was macht ihr da?", fragt Steven und Liam fängt an zu lachen.
"Was?", kommt auch gleich Lukas aufgeregte Stimme.
"Was ist denn los?", fragt Ariane hinterher.
Liam entreißt mir das Gerät und drückt auf den linken Knopf.
"Ach, wir haben hier nur ein wenig..."
Schnell schnappe ich mir das Gerät.
"Alles gut.", versichere ich den anderen.
"Na dann.", murmelt Ariane, dann ist alles still.
Ich lege das Gerät zur Seite und drehe mich etwas wütend zu Liam um.
"Was sollte das?", fauche ich ihn an und Liam kann sich sein typisches Grinsen nicht verkneifen.

Ehe er jedoch antworten kann, ertönt wieder das Knacken, dann Arianes Stimme.
"Grace, du kannst so langsam kommen. Und an alle anderen, die Wachen sind ausgeschaltet."
"Gut", sage ich in das Gerät und richte mich auf, wobei ich den Schlüssel für den Raum nervös in meiner Hand drehe.
Blitzschnell hat Liam meinen Fuß umklammert und zieht mich zu sich.

"Grace, du weißt, dass ich nicht will, dass du das machst."
"Du wirst meine Meinung nicht ändern", flüstere ich und sehe, wie es in Liam arbeitet.
"Bitte", fleht er mich an und ich schüttele entschlossen den Kopf, wobei mir das bei seinem süßen Blick schwer fällt.
"Dann lass mich dir helfen", schlägt er vor, während ich die Fesseln noch mal festziehe.
"Nein!", zische ich und will aufstehen.
Liam hält mich nicht auf, zeigt aber mit seinem Zeigefinger auf den Sand, in den er gerade vorhin etwas gemalt hat. Doch wie es sich herausstellt, ist es nichts Gemaltes, sondern drei Wörter, die nur noch schwer zu erkennen sind, da der Wind sie schon fast wieder verweht hat.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now